Es sollte Monate dauern, bis sie sich von dem Schock erholt hatte. Da erst legte sich der Groll in ihrer Seele und der nicht versiegen wollende Tränenstrom, der weniger ihren Augen als vielmehr ihrem Herzen entsprang, versickerte irgendwo in ihrem Inneren, wo er die Narben bedeckte, die sich riesigen Schluchten gleich gebildet hatten. Allmählich verwandelte sie sich in die grundgute und fröhliche junge Frau zurück, die sie zuvor gewesen war. Indem sie sich sagte, Tania hätte ganz bestimmt nicht gewusst, wie es mit ihr und Paul bestellt war und nicht einmal sie es ihr im entscheidenden Augenblick hatte sagen können, verflüchtigte sich ein großer Teil ihres Zorns und sie vergab ihrer Cousine tief im Herzen, ohne es ihr freilich jemals zu sagen, wozu genau genommen auch kein Anlass bestand.
Was sie dagegen von Paul halten sollte, wusste sie nicht. Vielleicht hatte sie sich schlicht und einfach in ihm getäuscht und er hatte zu keinem Zeitpunkt mehr als ein freundschaftliches Gefühl für sie empfunden. Immerhin, meinte sie, sei das möglich, auch wenn sie dieser Theorie keinen Glauben schenkte. Sie hätte sich noch viele Gedanken machen können, warum wieder einmal alles so verdammt schief gelaufen war. Glücklicherweise aber gehörte sie zu den Menschen, die unter unangenehme Begebenheiten konsequent einen Schlussstrich ziehen können, sei es auch nur, um sich zu schützen.
Nun, da sie mit Tania unter einem Dach lebte, konnte sie täglich, ja beinahe stündlich die Entwicklung ihrer Cousine zu einer ganz normalen Frau bestaunen. Die Unterhaltungen, die sie mit ihr führte, brachten schon bald zu Tage, warum sie einst so verschlossen gewesen war. Susanne verstand sie in den meisten Fällen sehr gut, sie vollzog ihre Leiden mit einer Intensität nach, die selbst Tania in Erstaunen versetzte. Und ohne die wahren Gründe für Susannes Interesse auch nur zu ahnen, sagte sich Tania, dass es mehr als dumm gewesen sei, wie sie bisher gelebt hatte. Susannes Beispiel zeigte ihr, dass es Menschen gab, mit denen sie über alles hätte reden können. Ihr ewig währendes Misstrauen schien ihr plötzlich unerklärbar und durch nichts zu rechtfertigen. Ermuntert und bestärkt durch das Verständnis ihrer Cousine baute Tania die sie umgebenden Mauern Stein um Stein ab und öffnete sich, um mit ihrer Hilfe die ersten Schritte in einer fremden Welt zu gehen.
Spätestens als Susanne klar wurde, wie wichtig sie für Tania binnen kurzer Zeit geworden war und wie viel diese ihr mittlerweile bedeutete, machte sie sich ernsthafte Gedanken über die vielen unausgesprochenen und unverdauten Erinnerungen, die tief in ihr verborgen lagen. Denn unabhängig von ihrer Blutsverwandtschaft konnte Susanne nicht aufhören daran zu denken, nun mit der Frau die Wohnung zu teilen, die ihr Paul vor der Nase weggeschnappt hatte. Zutiefst verletzt hätte sie ihre Cousine damals lieber in der Hölle gesehen, als sie in Pauls Armen zu wissen. Auch als das größte Herzeleid überwunden war, verursachte bereits der harmloseste Gedanke (doch solche Gedanken sind niemals harmlos!) an Tania oder Paul das Gefühl einer nahenden Ohnmacht.
Oftmals hatte Susanne sich ihre Reaktion vorzustellen versucht, würde sie Tania, Paul oder beiden begegnen. Die Szenarien, die sie sich ausmalte, reichten von gegenseitigem Ignorieren über Grüße im Vorbeigehen, bis hin zu Wutausbrüchen. Da sie also nicht wusste, was geschehen würde, war sie umso verwunderter, was eines Tages wirklich geschah: umweht von warmer Sommerluft und umgeben vom Duft ungezählter Blumen fand sie sich wieder wie sie mit Paul auf einer grünen Wolke tanzte, leicht wie eine Feder, berauscht wie von süßem Wein, und sich windend im rasenden Takt seines Pulses.
Danach sah Susanne Paul nicht wieder. Sie konnte sich nicht erklären, was in sie gefahren war, geschweige denn, was ihn dazu gebracht hatte, zu tun, was sie gemeinsam getan hatten. Ohne eine Entschuldigung zuzulassen, führte sie sich vor Augen, dass sie und Paul Tania betrogen hatten. Fassungslos stellte sie fest, dass es nicht einmal etwas gegeben hatte, was sie als Grund, Ursache oder Auslöser dieses Geschehnisses hätte bezeichnen können. Es war einfach passiert; es hätte nicht sein müssen. In welche Richtung auch immer Susanne ihre Gedanken lenkte, sie fand keine zufriedenstellende Erklärung. Das war doch nicht sie gewesen, wunderte sie sich, so etwas hatte sie noch nie getan. Und doch wurde sie von einer wundersamen Mischung aus Entsetzten und Staunen gepackt, sobald ihr die Leichtigkeit dieser Nacht aus den Nebeln ihrer Gedanken ins Bewusstsein trat; eine Leichtigkeit, in der sie Spuren von Gleichgültigkeit, Verdrängung und Egoismus entdeckte, in der sie daneben aber auch Verlangen, Sehnsucht, Lust und Leidenschaft sah.
In dem Maße, wie sich eine Freundschaft zwischen ihr und Tania entwickelte, entzog sich ihr die Möglichkeit, über das Geschehene mit ihrer Cousine zu sprechen. Schon bald war es für eine Beichte zu spät. Die Tania, die Susanne nun vor sich hatte, glich nicht mehr derjenigen, die sie mit ihrem Freund betrogen hatte. Schnell fand sie die Vorstellung absurd, den Fehltritt zu offenbaren. Nichts passte mehr zusammen, nichts ergab noch einen Sinn. In ihren Gedanken war sie die zugunsten einer anderen Verstoßene, die sich rächte, indem sie den begehrten Mann verführte (dabei hatte sie ihn gar nicht verführt!); sie dachte an Tania und sah in ihr die Ursache ihres Unglücks, die ihr den Mann entrissen hatte, ohne dass sie das gewusst hatte, denselben wieder verließ und ausgerechnet bei ihr Zuflucht suchte, nicht wissend, betrogen worden zu sein; und sie dachte an Paul und warf ihm vor, ihre Gefühle verletzt zu haben, da er, wenn er nicht geradezu ein Tölpel war, hätte spüren müssen, dass sie etwas für ihn empfand; und ganz und gar nicht konnte sie verstehen, warum er, nachdem er sich offensichtlich für sie zu interessieren begonnen hatte, ihr ohne Weiteres eine andere vorzog.
In diesen Gedanken hätte sich Susanne um ein Haar stranguliert. Sie drehte sich im Kreis und wusste, dass der einzige Ausweg darin bestand, mit allen Beteiligten ein klärendes Gespräch zu führen. Davor aber schreckte sie zurück, denn schließlich war Paul vergessen und Tania wurde mehr und mehr zu einer Freundin. Durch sie sollten die Ereignisse dieser Nacht folglich nicht ans Tageslicht kommen.
Merkwürdig ist das alles , dachte Susanne von Zeit zu Zeit. Bei solchen Gelegenheiten versuchte sie sich die Frage zu beantworten, ob sie Tania wirklich nur habe einziehen lassen, weil sie Cousinen waren. Im Grunde genommen waren sie quitt, meinte sie manchmal. Ein anderes Mal kam ihr jedoch der Verdacht, dass sie ihr das WG-Zimmer verschafft hatte, weil die Nacht, in der sie und Paul eins waren, mit der Schwere einer Sünde auf ihrem Gewissen lag. Sie wollte das Geheimnis zwar nicht lüften, doch war es ihr ein Bedürfnis, ihrer von ihr betrogenen Cousine im Stillen zu helfen. Vielleicht war es tatsächlich Mitleid, sagte sie sich dann und wann erstaunt.
Doch auch dieser Gedanke stiftete nichts als Verwirrung. Wer hatte denn mit ihr Mitleid gehabt? Und wie stand es um Paul? Hatte Tania ihn nicht ohne jede Erklärung verlassen? Wie fühlte er sich? Aber hatte er Mitleid verdient? Hatte Tania Mitleid verdient? Hatte sie Mitleid verdient? Schluss damit! , sagte sie sich. Es hatte keinen Sinn, derart darüber nachzudenken. Instinktiv spürte sie, dass sie es anders angehen musste, um zu vernünftigen Gedanken zu gelangen. Doch hatte sie keinerlei Vorstellung davon, wie das zu bewerkstelligen war, wurde doch ihre Denkweise durch die von all diesen Ereignissen hervorgerufene Sicht begründet, die nur schwerlich eine andere zuließ. Gefangen zwischen unregelmäßig wiederkehrenden Gewissensbissen und einer stets inniger werdenden Verbundenheit gegenüber Tania, wusste Susanne sich keinen besseren Rat zu geben, als zu sehen, wie es weitergehen würde.
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