Im Zuge dieser Entwicklung überdachte Morpheus seine Rolle ohne jede Illusion. So bedeutungslos war er bereits geworden, dass niemand mehr auf die Idee kam, ihm etwas mehr oder weniger Kostbares zu opfern, damit er dem Bittsteller hilfreiche, angenehme oder erleuchtende Träume schickte. Keinerlei Ansprüche wurden noch an ihn gestellt, die Menschen erwarteten schlichtweg rein gar nichts mehr von ihm – warum auch, sie träumten ja alle. Endgültig frei war er, wie er meinte, konnte tun, was immer er wollte, ohne auf jemanden Rücksicht nehmen zu müssen.
Gegen seinen Willen zu solch einer Freiheit verurteilt, wandte sich der Gott beinahe vollständig von den Menschen ab. Er war enttäuscht, nach unzähligen Jahren treuer Dienste sein Andenken auf Erden realisiert und gleichzeitig beschränkt zu sehen in profanen Lexikoneinträgen, die zu allem Überfluss lediglich Informationen darüber enthielten, wie abergläubisch die Welt einst gewesen war.
Frei war Morpheus! Frei im Sinne einer bedeutungslosen, verantwortungslosen und inhaltsleeren Freiheit, die jeden Normalsterblichen um den Verstand gebracht hätte. Wie aber wirkt sich solch eine Freiheit auf einen Gott aus? Das ist sicherlich schwer zu sagen, doch in Morpheus’ Fall lässt sich eine kurze, bündige Antwort geben: endlich frei gegenüber sich selbst (und damit frei gegenüber absolut allem ), wurde er zu dem, was er schon immer war: er wurde ein Gott! Fortan überließ er es dem Zufall und seiner Intuition, wen er mit welchen Traumbildern wann überkam und ebenso kümmerte er sich nicht länger darum, ob sein Treiben gänzlich folgenlos blieb oder wie auch immer geartete Wirkungen hervorrief.
So geschah es, dass Morpheus eines Tages, der viele Generationen zurück liegt, in jenen Stunden, in denen die Nacht über die Welt hereinbricht, bemerkte, wie wenig es ihm noch gelüstete, in den Träumen der Menschen zu erscheinen. Missmutig und unkonzentriert verrichtete er dennoch seine Arbeit, deren Folge ein weltumspannendender kollektiver und nichtsdestoweniger individueller Alptraum von solcher Qualität war, dass einer großen Anzahl Träumender das Erwachen verwehrt blieb. Am Morgen des folgenden Tages fanden viele Frauen ihre Männer, viele Männer ihre Frauen, viele Brüder ihre Schwestern, viele Schwestern ihre Brüder, viele Eltern ihre Kinder, viele Kinder ihre Eltern, viele Verwandte ihre Verwandten, viele Liebende den geliebten Menschen sowie gute Freunde, Bekannte, Bedienstete, Hausangestellte, etc., tot in ihren Betten.
Der Anblick der Leichen entsetzte nicht nur diejenigen, denen die schreckliche Entdeckung vorbehalten blieb, sondern auch die erfahrensten und abgebrühtesten Ärzte, die herbeigeeilten Geistlichen und alle anderen, die mit den Toten in Berührung kamen. Die Gesichter der Dahingerafften waren jeglicher Farbe beraubt, blutleer, verzerrt zu entsetzlichen Grimassen, zu Totenmasken im wahrsten Sinne des Wortes. Die unsagbaren Schrecken der Nacht hatten sich tief in ihre versteinerten Züge gefressen. Nichts anderes als eine grauenhafte Kombination aus Schreien, Winseln, purer Angst, Panik, Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung spiegelten sie wieder. Die Augen der Toten: unnatürlich weit aufgerissen, nur noch weiß, nur noch weiß, und in ihren angsterfüllten Pupillen gebannt, gefangen, verschlossen das Grauen und der Terror der vergangenen Nacht – abstrakte und schon bald vergehende Zeugnisse des absolut Bösen. Die Körper: verkrampft, gewunden, verrenkt, stocksteif, starr und spröde. Nicht wenige Ärzte vertraten die Meinung, die Leichenstarre all dieser Unglücklichen müsse unmittelbar nach ihrem Tod eingetreten sein. Die Hinterbliebenen sahen sich vor ein weiteres Problem gestellt, denn an eine Aufbahrung oder gar an eine Bestattung im Sarg war nicht zu denken, wollte man den Verstorbenen nicht entweder alle Knochen brechen oder einzelne Gliedmaßen abtrennen. Da man jedoch sah, wie furchtbar ihr Todeskampf gewesen war, verzichtete man darauf.
Als Todesursache diagnostizierten die Ärzte in seltener Übereinstimmung Herzstillstand, ohne jedoch davon überzeugt zu sein. Überhaupt keine Antwort fand man auf die Frage, wie in einer einzigen Nacht Abertausende gesunder Menschen auf dem ganzen Erdenrund sterben konnten. Nicht wenige Mediziner vermuteten einen Zusammenhang, der dieses grauenhafte Phänomen zu begründen vermochte. Doch das Unvermögen, eine plausible Erklärung zu finden, beschwor einen weiteren Alptraum herauf.
In Panik geraten vermuteten die Menschen hinter den Ereignissen nichts weniger als das Werk des Teufels. (Angesichts solch einer Katastrophe kannte ihre Phantasie keine Grenzen.) Hitzig spekulierten sie auch über mögliche Vergiftungen aller damals bekannten Arten: über die Vergiftung von Wasser, Luft oder Lebensmitteln. Man zog eine unbekannte Epidemie in Erwägung und tötete alle in Frage kommenden Krankheitsüberträger. In einer nahezu infernalischen Raserei wurden alle Ratten, Mäuse und anderes Ungeziefer vernichtet, dem man habhaft werden konnte, aber auch streunende Katzen und Hunde. Man suchte nach Hexen und Hexer, fand einige höchst verdächtige Personen, sich plötzlich merkwürdig verhaltende Kinder (sie standen durch den Verlust ihrer Angehörigen zuhauf unter Schock!), einige Katzen mit satanischen Zeichen im Fell, ein Pferd, dem anscheinend Hörner wuchsen, drei Kühe, die schwarze Milch gaben und noch unzählige Kuriositäten mehr, die zuvor bisweilen der ganze Stolz ihrer Besitzer gewesen waren. Alle wurden verbrannt. Die Scheiterhaufen vor den Städten loderten Tage, in manchen Orten sogar Wochen.
Man glaubte sich und sein Handeln bestätigt, da in den Nächten der folgenden Tage Wochen Monate lediglich die Alten, die Kranken, die Trinker, die Unvorsichtigen und die Selbstmörder starben. Beinahe schien es, als sei nichts gewesen, nur der Verlust so vieler Menschen und die rasante Ausdehnung der Friedhöfe trübten diesen Eindruck. Die Überlebenden des göttlichen Infernos, die aus Angst, der Tod könne auch sie auf diese schreckliche Weise in der Nacht ereilen, nicht mehr schliefen, hörten auf, die Nächte zu durchwachen. Der Alltag kehrte zurück und brachte andere Katastrophen, sodass sich dieses Ereignis, weil es ohne Wiederholung blieb, aus dem Gedächtnis der Menschheit langsam verabschiedete und sich nicht einreihte in die lange Liste gemeinsam erlittener Schicksalsschläge, von denen man sich abends am warmen Herd in kalten, stillen Winternächten gruselige Geschichten erzählte.
Und Morpheus? – dachte nicht eine einzige Minute darüber nach, was er verursacht hatte. Er war ein Gott und so verhielt er sich. Was interessierten ihn tote Menschen? Was kümmerte ihn unsagbares Leid? Das Ausmaß und die Folgen seines Handelns waren ihm doch von vornherein klar, oder etwa nicht? Das hatte ihn jedoch nicht daran gehindert, zu tun, was er schließlich getan hatte.
Nachdem alles vorbei war, blickte er teilnahmslos auf sein Werk. Er sah die Toten, er sah die Waisen, die Witwen, die Witwer und all die anderen Trauernden, deren Schicksal in irgendeiner Weise mit den Ereignissen jener Nacht in Verbindung stand. Es berührte ihn nicht! Stattdessen wurde seine Aufmerksamkeit von einem ganz anderen Aspekt in Beschlag genommen: niemand vermutete einen Zusammenhang zwischen Schlaf, Traum und Tod. Allein aus Unkenntnis würde er nicht verantwortlich gemacht werden für ein einziges nicht mehr schlagendes Herz.
Wie sinnlos doch all sein Handeln geworden war! Zwar gehörte er nicht zu den Göttern, die große Verehrung und Anbetung gewohnt waren, doch erinnerte er sich noch gut an die Zeiten, in denen die Menschen ihm Respekt erwiesen hatten. Damit war der Gott zufrieden, bescheiden wie er war, und behandelte sie entsprechend, wenn er sie in ihren Träume besuchte. Doch nun? Endgültig verlor er die Lust an seinem Dienst.
Lange dachte Morpheus darüber nach, wie er in Zukunft mit den Träumen der Menschen verfahren sollte. Denn für ihn stand nun endgültig fest, dass es so wie bisher nicht weitergehen konnte. Verschiedene Möglichkeiten gingen ihm durch den Kopf, die er jedoch allesamt sofort wieder verwarf, weil sie nicht zu einer wirklichen Veränderung geführt hätten. Ganz gleich, was er getan hätte, grundlegend wäre alles beim Alten geblieben. Nichts wäre über eine Variation hinausgegangen.
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