5.2 Untersuchung von Gesamttragwerken
5.2.1 Einflüsse der Tragwerksverformung
(1) Die Schnittgrößen können im Allgemeinen entweder nach:
– Theorie I. Ordnung, unter Ansatz der Ausgangsgeometrie des Tragwerks, oder nach
– Theorie II. Ordnung, unter Berücksichtigung der Einflüsse aus der Tragwerksverformung
berechnet werden.
(2) Die Einflüsse der Tragwerksverformungen (Einflüsse aus Theorie II. Ordnung) sind in der Regel zu berücksichtigen, wenn die daraus resultierende Vergrößerung der Schnittgrößen nicht mehr vernachlässigt werden darf oder das Tragverhalten maßgeblich beeinflusst wird.
(3) Die Berechnung nach Theorie I. Ordnung ist zulässig, wenn die durch Verformungen hervorgerufene Erhöhung der maßgebenden Schnittgrößen oder andere Änderungen des Tragverhaltens vernachlässigt werden können. Diese Anforderung darf als erfüllt angesehen werden, wenn die folgende Gleichung erfüllt ist:
(5.1) 
Dabei ist
α cr |
der Faktor, mit dem die Bemessungswerte der Belastung erhöht werden müssten, um die ideale Verzweigungslast des Gesamttragwerks zu erreichen; |
F Ed |
der Bemessungswert der Einwirkungen auf das Tragwerk; |
F cr |
die ideale Verzweigungslast des Gesamttragwerks. Bei der Berechnung von F crist von den elastischen Anfangssteifigkeiten auszugehen. |
Anmerkung: Für die plastische Berechnung ist in Gleichung (5.1)ein höherer Grenzwert für α crfestgelegt, da der Einfluss nichtlinearen Werkstoffverhaltens auf das Tragverhalten im Grenzzustand der Tragfähigkeit erheblich sein kann (z. B. bei Tragwerken mit Fließgelenken und Momentenumlagerung oder Einfluss nichtlinearer Verformungen von verformbaren Anschlüssen). Im Nationalen Anhang dürfen kleinere Werte für α crbei bestimmten Rahmentragwerken festgelegt werden, wenn diese durch genauere Ansätze begründet sind.
zu 5.2.1(3) Anmerkung
Bei Anwendung der plastischen Berechnung ist für die Abfrage von Gleichung (5.1)das statische System unmittelbar vor Ausbildung des letzten Fließgelenks zugrunde zu legen oder es ist jedes einzelne Teilsystem der Fließgelenkkette zu untersuchen. Der Grenzwert ist dann mit 10 statt mit 15 anzunehmen.
(4) B Hallenrahmen mit geringer Dachneigung sowie Rahmentragwerke des Geschossbaus dürfen gegen Versagen mit seitlichem Ausweichen nach Theorie I. Ordnung nachgewiesen werden, wenn die Bedingung in Gleichung (5.1)für jedes Stockwerk eingehalten ist. Bei diesen Tragwerken sollte α crnach folgender Näherung berechnet werden, wenn die Auswirkung der Normalkräfte in den Trägern oder Riegeln vernachlässigbar ist:
(5.2) 
Dabei ist
H Ed |
Bemessungswert der gesamten horizontalen Last, einschließlich der vom Stockwerk übertragenen äquivalenten Kräfte (Stockwerksschub), siehe 5.3.2(7); |
V Ed |
Bemessungswert der gesamten vertikalen Last, einschließlich der vom Stockwerk übertragenen äquivalenten Kräfte (Stockwerksschub); |
δ H,Ed |
die Horizontalverschiebung der oberen Stockwerksknoten gegenüber den unteren Stockwerksknoten infolge horizontaler Lasten (z. B. Wind) und horizontalen Ersatzlasten, die am Gesamtrahmentragwerk angreifen; |
h |
die Stockwerkshöhe. |
Der Grenzwert für die elastische Tragwerksberechnung nach Gleichung (5.1)entspricht der alten 10%-Regel nach DIN 18800 Teil 1 [K1], Element (739), Bedingung (a). Entsprechend sind auch die alternativen gleichwertigen Regeln (b) und (c) anwendbar: Eine Berechnung nach Theorie II. Ordnung ist danach nicht erforderlich, wenn die bezogenen Schlankheitsgrade
nicht größer als
sind
mit 
(dies entspricht Gleichung (5.3)in EN 1993-1-1) oder die mit dem Knicklängenbeiwert β = s k/ i multiplizierten Stabkennzahlen
aller Stäbe nicht größer als 1,0 sind.
Bei veränderlichen Querschnitten oder Normalkräften sind ( E ⋅ I ), N Kiund s Kfür die Stelle zu ermitteln, für die der Tragsicherheitsnachweis geführt wird. Im Zweifelsfall sind mehrere Stellen zu untersuchen. In den Bedingungen ist die Normalkraft N als Druckkraft positiv anzusetzen.
Zu 5.2.1(3) Anmerkung und NDP zu 5.2.1(3) Anmerkung
Die bisherige liberale Regel, für α crden Wert 15 anstelle von 10 bei plastischer Tragwerksberechnung zuzulassen, kann zu gravierenden Fehleinschätzungen führen. Die Anfangssteifigkeit ist kein hinreichendes Kriterium für die Unempfindlichkeit der gesamten Fließgelenkkette für Effekte Theorie II. Ordnung. Unter Umständen kann sich wegen Stabilitätsversagen in einem Teilsystem die endgültige Kette auch gar nicht ausbilden. Für weitere Erläuterungen wird auf [K44] verwiesen.
Für verschiebliche Rahmensysteme des Hochbaus, d. h. für Hallenrahmen mit geringer Dachneigung (< 26°) und Rahmentragwerke des Geschossbaus, gestattet EN 1993-1-1 eine vereinfachte Ermittlung von α crnach Gl. (5.2)und Bild 5.1. Gl. (5.2)geht dabei auf das sog. P -Δ-Verfahren zurück, das α cr= F cr/ F Edüber das Verhältnis von Verformungsmoment Δ M = V Ed⋅ δ H,Edzum Lastmoment M Ed= H Ed⋅ h nach Theorie I. Ordnung annähert.
Mit Gleichung (5.3)in Anmerkung 2B wird überprüft, ob die Normalkraft bzw. Druckkraft im Riegel eine Rolle spielt. Diese Gleichung entspricht genau der Bedingung b) nach DIN 18800-1, Element (739), bzw. Gleichung (5.1), nur mit umgekehrtem Ungleichheitszeichen. Die Riegeldruckkraft muss also berücksichtigt werden, wenn Gleichung (5.3)erfüllt ist, und sie darf vernachlässigt werden, wenn Gleichung (5.1)zutrifft.

Bild 5.1. Bezeichnungen zu 5.2.1(4)
Anmerkung 1B: Als geringe Dachneigung darf bei der Anwendung von (4)B eine maximale Neigung von 1:2 (26°) angenommen werden.
Anmerkung 2B: Die Auswirkung der Druckkraft sollte bei der Anwendung von (4)B berücksichtigt werden, wenn der Schlankheitsgrad
in den Trägern oder Riegeln unter Annahme gelenkiger Lagerung an den Enden folgende Gleichung erfüllt:
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