Aber wir Erwachsenen möchten noch ein paar Stunden schlafen. Es ist vier Uhr morgens.
“Möchtet ihr ein eigenes Zimmer, oder wollen wir alle zusammen im Wohnzimmer schlafen?”, fragt Abbas, als Fatheme sich daran macht, die zusammengerollten Matratzen auf dem Boden auszubreiten. Wir möchten alle zusammen übernachten. Wie in einem Ferienlager, ein Massenschlag auf iranischen Teppichen.
Wir schlafen bis um 11 Uhr. Frühstück auf dem Boden, ein plastikbeschichtetes Tischtuch als Tisch, wir sitzen drumherum.
In seinem Auto fahren wir dann zu siebt zu einem Schrebergarten, wo schon seine halbe Verwandtschaft auf uns wartet. Freizeitbeschäftigung Nummer 1 im Iran ist das Picknicken. Seit der Revolution ist so vieles verboten, da bleibt nicht mehr viel übrig in der Öffentlichkeit.
1978 und 1979 sind hier Millionen von Menschen auf die Strassen gegangen und haben sich den Massendemonstrationen gegen den letzten Schah von Persien und für die Revolution von Ayatollah Khomeini angeschlossen. Der Schah war eine Puppe der Briten und Amerikaner geworden und hat sein Land entgegen dem Willen der tief religiösen Bevölkerung modernisiert und «amerikanisiert». Viele Ausländer, vor allem Amerikaner, arbeiteten in Persien (wie der Iran früher hiess), und hielten die besten Arbeitsplätze inne. Doch der Schah hat an der Bevölkerung vorbei modernisiert. Nur wenige Schichten haben von den Petrodollars profitiert, während die meisten arm geblieben sind. Viele Gegner des Regimes befanden sich hinter Gittern, wurden gefoltert und ermordet.
Am Anfang organisierte Ayatollah Ruhollah Khomeini al-Mussawi die Revolution von seinem Exil in Frankreich aus. Ironischerweise haben die westlichen Medien, allen voran BBC, seine Position in jener Zeit stark hervorgehoben. Im Iran selbst war er noch gar nicht so bekannt. Viele Leute dachten damals noch, dass sich der Geistliche später aus der Politik heraushalten werde. Als die grössten Verbündeten des Schahs, die Vereinigten Staaten von Amerika, merkten, dass der Schah sich nicht an der Macht würde halten können, liessen sie ihn wie eine heisse Kartoffel fallen. Nachdem er noch hunderte, wenn nicht tausende von Demonstranten einfach in den Strassen hatte erschiessen lassen, floh er am 16. Januar 1979 ins Exil, von einem Land ins andere - die Amerikaner wollten ihn auch nicht mehr - und starb 1980 einsam in Ägypten. Ayatollah Khomeini kehrte am 1. Februar 1979 nach Teheran zurück und wurde von Millionen von Menschen jubelnd begrüsst. Doch bald zeigte der sich nun Imam (Führer) nennende sein wahres Gesicht: Er war ein Psychopath! Khomeini gründete einen islamischen Staat, der sich auf den - auf seine Weise interpretierten - Koran stützte, und setzte dessen Gesetze mit brutaler Gewalt durch.
Im Westen hat sich unterdessen die Meinung etabliert, dass alle Einwohner des Landes immer noch grosse Anhänger seiner Lehren sind und vor allem alle Frauen gerne freiwillig den Tschador tragen. Doch die Iraner und Iranerinnen sahen sich mit einem extremen Despoten konfrontiert, der sich als noch viel schlimmer erwies als der Schah. Er hatte sie alle getäuscht. Er liess alles Amerikanische verbieten, Filme, Musik, Alkohol. Frauen mussten ihr Haar bedecken und durften keine Haut mehr zeigen. Nicht einmal schminken durften sie sich. In den Skigebieten wurden getrennte Frauen- und Männerpisten eingeführt, an den Stränden des Kaspischen Meeres Betonmauern bis weit ins Wasser hinaus gebaut, damit man die Badenden nach Geschlechter trennen konnte. Das Volk hat das nicht gewollt!
Ein Moslem ist kein Fundamentalist und schon gar kein Terrorist. Auch ein Christ muss kein Fundamentalist oder Terrorist sein. Aber in Nordirland gibt es ein paar fundamentalistische und terroristische Christen. Und so gibt es im Iran halt auch ein paar fundamentalistische und terroristische Muslime, die alle anderen friedliebenden Muslime in den Dreck ziehen und ihnen einen schlechten Ruf bescheren, der von den westlichen Massenmedien noch unterstrichen wird. Oder in Büchern, die iranische Männer als Alptraum hinstellen, sodass jede westliche Mutter, die von ihrer Tochter erfährt, dass diese einen Iraner heiraten wolle, fast einen Herzschlag bekommt. Das Land mit der grössten muslimischen Bevölkerung der Welt ist übrigens Indonesien. Von diesen Muslimen hören wir sehr wenig…
Als ich mal an meinem früheren Arbeitsplatz an der Zürcher Börse meinen Kunden mitteilte, dass ich gekündigt habe und auf eine grosse Weltreise gehen werde, kamen zuerst Fragen wie: «Hast du einen Lottosechser gehabt?» oder «Ist dir mit Börsengeschäften ein grosser Coup gelungen?». Nachher wollten natürlich alle wissen, durch welche Länder ich reisen werde. Ich zählte meine auserwählten Länder auf. Ein Kollege hat darauf erwidert, er beneide mich zwar, dass ich so lange Ferien mache, aber in diese Länder wolle er überhaupt nie reisen! Auch mein Akupunktur-Arzt hat erschrocken ausgerufen: «In den Iran? In dieses Land würde ich nicht einmal gehen, wenn man mir sehr viel Geld dafür zahlen würde! Wie geht die Regierung mit ihren eigenen Menschen um? Wie wird sie dann erst mit Touristen umgehen?!» In einem Reisemagazin hat ein Journalist geschrieben, als er seinem Freund erzählt habe, dass er in den Iran reise, um eine Reportage zu schreiben, habe der ihm geantwortet: „Die werden dir sicher schon auf der Flugzeugtreppe die Kehle aufschneiden!“
Seit drei Tagen sind wir nun im Iran und leben immer noch! In allen Strassenrestaurants und Geschäften, wo wir essen und einkaufen, sind alle immer unglaublich freundlich zu uns. Im Garten picknicken wir mit den Grossmüttern, Tanten, Onkel, Cousinen und Cousins, Nachbarn und Freunden von Abbas und Fatheme, unsere Kinder spielen zusammen, die Kleinen haben die zwei Schildkröten gefunden, die hier ausgesetzt wurden. Wir Erwachsenen spielen Fussball und rauchen Wasserpfeife. Es gibt Reis und Jujeh Kebab, Berendsch und Ash-é-Reschté. Reis, Hähnchen-Kebab und Suppe. Früchte und Kuchen.
Am nächsten Tag ruft Christian den Iran Air-Piloten Behzad an, den er in Paris im Simulator kennen gelernt hat. Iran Air hat auch Fokker 100-Flugzeuge wie die Helvetic Air von Christian, und deswegen haben sie die jährlichen Simulator-Trainings in Paris. Behzad kommt mit seiner Frau und seinen drei Söhnen. Maryam legt auch in Abbas’ Wohnung ihren schwarzen Tschador (rechteckiges Tuch, wörtlich: Zelt) nicht ab. Unsere Fatheme behält einfach ihren Hedschab (Kopftuch) an. Vor fremden Männern möchten die Frauen ihre Haare nicht entblössen. Ich trage mein Kopftuch in der Wohnung allerdings nicht. Fatheme hat es vor Christian auch nicht angezogen, sie ist eine moderne junge Frau. Aber aus Respekt vor der sehr religiösen Maryam behält sie es an. Wir dürfen darüber nicht werten. Es steht uns nicht zu. Hauptsache, alle sind freundlich. Behzad lädt uns alle in ein tolles Lokal ein, ins Saray Restaurant. Unzählige einheimische Spezialitäten werden aufgetragen: Diverse verschiedene Fleischspiesse und Eintöpfe wie Khoresht-é Bademdschan (Auberginen mit Gulasch), Khoresh Sabzi (Gulasch mit Gemüse), Moussir, Parvardeh Seytun (Oliven mit Haselnüssen und Granatapfelkernen), Dukh, Shishlyk-, Sultani-, Dschendsche-, Bakhtiari-, Kafghazi- und Mahi (Fisch-) Kebab, mit vielen Gemüsen und verschiedenen Saucen. Die persische Küche ist sensationell. Und hat nichts gemeinsam mit der Libanesischen. Leider lernt man sie fast nur in privatem Ambiente kennen, nur selten in Restaurants, weil diese meist von Männern geführt werden und das beste iranische Essen nur Frauen zubereiten können. Wer auf einer geführten Rundreise unterwegs ist, lernt meist nur Reis und Fleischspiesse kennen. Die wahren persischen Spezialitäten gibts nur privat. Es wäre schade, eine private Einladung nicht anzunehmen!
Mit Behzads drei Söhnen Ahmad Reza, 17, Amir Reza, 14, und Hamid Reza, 3, verbleiben wir noch auf einem Spielplatz, wo unsere Kinder mit afghanischen Flüchtlingskindern zusammen spielen. Iran ist eines der Länder, die neben dem Libanon die meisten Flüchtlinge aufgenommen hat. Halb Afghanistan lebt im Iran. Afghanen sprechen ein mit dem Farsi verwandtes Paschtun, sie können sich gut verständigen hier.
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