"Tatsächlich?" fragte Alex interessiert und nahm einen kräftigen Schluck aus seiner Kaffeetasse, und Micha spürte, dass sein Vater das Gleiche dachte wie er.
"Ja, allen Ernstes. Sein Bruder, der andere Dr. Schulze, war einmal ziemlich spät noch in der Kanzlei. Er war ganz allein im Haus. Da hörte er aus dem Erdgeschoß, aus den Räumen der Ballettschule, Geräusche wie von einer lustigen Party mit vielen Menschen. Es ließen sich sogar einzelne Stimmen unterscheiden, und auch Gläserklirren.
Aber es konnte, wie gesagt, eigentlich niemand dort unten sein, denn zu dieser Zeit machte die Ballettschule Sommerferien. Und wenn sie eine Party gegeben hätten, dann hätten sie das vorher bestimmt gesagt.
Na jedenfalls, der Anwalt war so verblüfft, dass er hinunterging, um nach dem Rechten zu sehen. Aber als er die Treppe halb heruntergestiegen war, verstummte der Lärm. Er klingelte und klopfte bei der Ballettschule - die haben das Erdgeschoss gemietet -, aber niemand öffnete. Auch war die Tür sorgfältig verschlossen. Er holte die Reserveschlüssel und ging durch alle Räume. Aber es war niemand zu sehen, nichts zu hören. Kein Licht brannte. Es war alles ganz ruhig. Ist das nicht seltsam?" Harry nahm einen Schluck aus seiner Tasse und wischte sich dann mit seinem Handrücken über den Mund. „Lecker der Kaffee“, sagte er zu Mimi „ und der Kuchen ist auch wie immer…“ „…köstlich…“ ergänzte der Großvater.
"Und wie ging es weiter?" wollte Micha von Harry wissen und zog ihn am Ärmel.
"Nichts weiter", sagte Harry, "das war alles. Der Lärm ist seitdem nicht mehr aufgetaucht, und es gibt auch überhaupt keine Erklärung dafür, sagen die Anwälte."
"In dieser Villa", erzählte der Großvater, "hatten sich in den letzten Kriegsjahren die Nazis einquartiert. Da wurden viele Feste gefeiert."
"Da ging es zu wie... das war bekannt", ergänzte Harry, "und es sollen dort sogar Menschen spurlos verschwunden sein, in dieser Villa", sagte er orakelhaft und mit hochgezogenen Augenbrauen, "und sie haben damals auch diesen Schießplatz angelegt, unten beim See. Ich kann mich noch genau erinnern. Als kleiner Junge habe ich dort zugesehen. Haben eine Menge Erde bewegt damals. Hab mich immer ziemlich gewundert, woher all diese viele Erde kam."
Micha fiel es schwer, sich den alten Gärtner als einen neugierigen kleinen Jungen vorzustellen.
"Aber mittlerweile ist von dem alten Schießplatz nichts mehr zu erkennen. Alles wieder zugewachsen", sagte der Großvater, "heute stehen dort wieder Bäume, die inzwischen auch schon über 50 Jahre alt sind."
"Und die Leute, die früher in der Villa gewohnt haben, vor dem Krieg, was ist aus denen geworden?" fragte Alex.
"Die wurden fast alle ermordet. Der alte Goldberg noch ganz kurz vor Kriegsende", sagte Mimi, die unaufgefordert Kaffee nachschenkte "heute gehört das Haus einer Erbengemeinschaft in Amerika, glaube ich."
"Woher weiß die das denn", dachte Micha.
"Hat sich noch nie einer von denen hier sehen lassen", ergänzte Harry, der sich inzischen satt zurückgelehnt hat und die Hände zufrieden über seinem stattlichen Bauch verschränkte. "aber verdenken kann man's ihnen nicht."
"Warum hat mir das Großpapa nicht früher erzählt?" überlegte Micha. Als er vor etwas über einem 1 Jahr hier war, stand das Haus gerade leer, jedenfalls das Erdgeschoss, und Micha war irgendwann einmal durch den verwilderten Garten geschlichen, hatte die beiden riesigen Linden bewundert, die so gut versteckt hinter der dichten Zypressenhecke standen, und er hatte neugierig durch die Fenster ins Parterre der düsteren Villa gespäht.
Was er dort suchte, wusste er eigentlich selbst nicht so recht, aber er empfand das Grundstück als einen wunderbaren Abenteuerspielplatz.
"Vielleicht, wenn ich mich rein getraut hätte", dachte er, "hätte ich dort noch irgendwas gefunden... ein paar alte Patronenhülsen oder eine vergrabene Pistole, oder auch einen Schatz, so einen Nazischatz aus lauter Goldbarren und alten Banknoten und wichtigen Dokumenten."
"Ob du noch ein Stück Kuchen willst, fragt dich Mimi", sagte Alex.
"Nein danke." winkte Micha ab.
Gern hätte Micha noch etwas mehr über diese Geistervilla erfahren, aber niemand verlor mehr ein Wort darüber. Und fragen wollte er auch nicht. Schließlich sollte der Großvater ihn nicht für neugierig halten.
Interessant wurde die Unterhaltung der Erwachsenen erst wieder, als Harry aus seiner Jackentasche ein abgenutztes Schreibheft hervorzog und daraus mit wichtiger Miene vorlas, denn Alex hatte ihn soeben nach seinem Hobby, den alchimstischen Studien, gefragt.
Geheimnisvoll orakelnd las Harry, wobei er seine Lesebrille auf der Nasenspitze balancierte:
"Durch stete ordentliche Abwartung und Regierung des Feuers, wird die einzige Universalmateria, in einem einzigen Gefäß und Ofen, durch eine einzige Regierung des Feuers, putrificieret, regenerieret und perficiret. Darf also der Laborant anders und weiters nichts thun, als dass er, neben Abwartung des Feuers, Gott um seinen Segen und Benedeyen bitte."
Harry klappte sein Heft zu und sah mit bedeutungsvoller Miene in die Runde. Der Großvater schwieg.
"Also, um ehrlich zu sein, es klingt etwas seltsam", sagte Alex.
"Die Alchemisten haben nur so seltsam gesprochen", sagte der Großvater, wie um Harry zu entschuldigen; der schien sich ein bisschen unverstanden.
Micha wusste, dass der Großvater sich mit seltsamen Dingen beschäftigte, wie Mystik und Kabbala; und er hatte keine Ahnung, worum es dabei eigentlich ging. Auch waren ihm seit einem früheren Aufenthalt Großvaters Astrologiestudien bekannt; aber Harrys Alchemie - das war ihm ganz neu.
Und außerdem, wenn Micha sich recht erinnerte, bezeichnete Harry sich als so eine Art Lehrling oder Schüler vom Großvater - obwohl sich Micha so einen alten Schüler wie den Gärtner eigentlich gar nicht denken konnte: 'Harry, wieviel ist 3 plus 4 ?' '8 ?' 'Falsch! Setzen! Das gibt einen Eintrag ins Klassenbuch wegen fortgesetzter Trunkenheit!'
"Aber warum haben sie das denn gemacht, so seltsam zu reden, wenn sie dann keiner versteht?" fragte Micha neugierig.
"Eben deshalb.“ antwortete Harry und fuhr fort: „Um ihre Erfahrungen miteinander auszutauschen, ohne dass sich jemand Unberufener einmischen konnte."
"Wer sollte sich denn da einmischen?", wollte Micha weiter wissen.
"Tja", sagte Harry, "die Alchemisten haben den Stein der Weisen entdeckt. Und mit dem muss man natürlich ziemlich vorsichtig umgehen, denn er besitzt Wunderkräfte."
"Wunderkräfte?“ echote Micha und seine Augen waren weit geöffnet.
Es erstaunte ihn gar nicht, dass er so urplötzlich in eine Art Unterrichtsstunde hineingerutscht war, beim Kaffeetrinken - und mitten in den Ferien noch dazu. Das war auch schon früher so gewesen, aber merkwürdigerweise hatte Micha sich nie daran gestört, denn der Großvater sprach mit ihm meistens über Sachen, die in der Schule nicht unterrichtet wurden.
'Die wirklich wichtigen Dinge', pflegte er mit einem Augenzwinkern zu sagen, 'lernt man nicht in der Schule'.
Nur, dass Harry jetzt auch schon anfing, wie der Großvater zu reden, das störte Micha allerdings.
"Immerhin hat einer von denen, welche diese alchymistischen Symbole wörtlich genommen haben, das Porzellan erfunden, ein gewisser Herr Böttger", sagte Harry zu Micha gewandt und mit erhobenem Zeigefinger, der die Wichtigkeit dieser Aussage untermalen sollte, wie ein Oberlehrer.
"Weiß ich. Hatten wir schon in der Schule. Aber hat er denn das Porzellan aus lauter Symbolen gemacht?" fragte Micha.
"Aus symbolischer prima materia.“ fiel nun der Grovater ein. Und er fuhr fort: „ Böttger hat lange herumgerätselt, was die materia prima nun wirklich ist. Denn man hatte alles Mögliche vermutet - dass es vielleicht Quecksilber oder Blei oder Gold sei. Sogar Blut, Essig und Schwefel hatten die ‘Sudelköche’ in Verdacht".
Читать дальше