Eine Überraschung erwartete die beiden, als sie in ihr Abteil zurückkamen: es war leer. Die alte Dame war fort, mitsamt ihrer Reisetasche auf Rädern und dem Mantel.
Micha schaute ins Gepäcknetz. Na jedenfalls war sein Rucksack und der Koffer seiner Mutter noch da.
"Wo ist sie hin?", fragte Mam, während sie sich nachdenklich am Kopf kratzte, "ich meine, der Zug hat doch inzwischen kein einziges mal gehalten!"
"Vielleicht ist sie aufs Klo...", erwiderte Michael mit weit geöffneten Augen.
"Mit Mantel und Gepäck?" fragte Mam und schaute fragend zur Türe.
"...Oder sie hat einfach das Abteil gewechselt." überlegte Micha.
"Aber warum denn um Gotteswillen! Ich sage dir, mit dieser Frau stimmt was nicht!" Mam ließ sich langsam auf ihren Sitzplatz sinken und schaute suchend im Abteil umher, um eine Spur zu entdecken.
"Ach Mam, was soll denn an einer alten Oma nicht stimmen. Meinst du, sie hat eine Bank ausgeraubt?" Auch Micha suchte ein Zeichen oder ein Indiz, das darauf hindeuten könnte, wo die alte Dame abgeblieben sein könnte.
Er schaute auf den Boden und bemerkte etwas unter der Sitzbank. Mam folgte seinem Blick und beugte sich vor.
"Was ist?!" fragte sie beunruhigt und legte die Stirn nachdenklich in Falten.
Micha zog einen einzelnen Schuh hervor und betrachtete ihn erstaunt von allen Seiten.
"O Gott!" sagte Mam erschrocken, "das ist einer von ihren Schuhen!"
"Bist du sicher?" Micha blickte den Schuh fragend an, als könne er verraten, was geschehen sei.
"Absolut!" Mam rutsche nervös auf ihrem Sitz hin und her.
"Und was bedeutet das?" fragte Micha ziemlich kleinlaut, beinahe flüsternd.
"Schatz, ich hab' keine Ahnung. Ich weiß nur, dass hier etwas nicht stimmt!"
Micha hatte den Schuh auf die Bank gestellt und war noch mal hinunter getaucht.
"Hier ist noch was!"
"Was denn, um Gotteswillen!" Auch Mam sprach auf einmal ganz leise.
Micha hielt zwischen Daumen und Zeigefinger eine benutzte Einwegspritze, deren Kanüle eindeutig mit frischem Blut benetzt war.
"Fass' das nicht an. Du kannst dir sonst was holen!" zischte Mam erschrocken. Micha gehorchte sofort. Er legte die Spritze mit gepreizten Fingern und äußerst vorsichtig neben den Schuh und fixierte dabei mit angewidertem Blick die blutige Nadel.
"Das versteh' ich nicht", sagte er und schüttelte bedächtig den Kopf.
"Ich wusste es! Mir war die Sache von Anfang an nicht geheuer." Mam verschränkte die Arme vor der Brust und blickte ebenso entsetzt auf die gefundenen Utensilien, wie Micha.
"War sie ein Junkie?" grübelte Micha laut.
"Dummes Zeug." Mam wurde sichtlich unruhig.
"Aber wo ist sie hin?!" fragte sie sich selbst und blickte sinnend ins Leere.
Als im Nachbarabteil die Tür aufgeschoben wurde, nahm Micha eine alte Zeitung aus dem Gepäcknetz und legte sie über den Schuh und die Spritze.
"Was machst du denn da?" wollte Mam wissen und richtete sich in ihrem Sitz auf.
"Nichts", sagte Micha. Er öffnete die Abteiltür, schob nur den Kopf hinaus, schaute mehrmals in beide Richtungen.
"Wo willst du hin!" fragte Mam und spielte nervös am Verschluß ihrer Handtasche herum.
"Ich will nur mal gucken - bin gleich wieder da!"
Damit war Micha mit einem Satz auf den Gang hinaus getreten und schlenderte durch den Wagen, gaanz unauffällig, beide Hände in den Hosentaschen. In den Nachbarabteilen war alles ruhig; die Leute schliefen oder sie lasen. Alles war ganz normal. Auch das laute Reden im Abteil auf der anderen Seite hatte sich nicht verändert. Micha wollte nicht so weit weg von Mam und beschloss doch wieder umzukehren. Mam steckte gerade ihren Kopf auf den Gang hinaus, um zu sehen, wo Micha so lange blieb, als dieser zurückkehrte.
"Keine Spur von irgendwas" sagte er leise, während er hastig die Abteiltüre zuzog und sie sich wieder setzten. Mam sah ihn ratlos und mit großen Augen an und hielt ihre Handtasche mit beiden Händen fest in den Schoß gedrückt, als wolle sie sich daran festhalten.
Vor dem Abteil ging der Schaffner vorbei und wurde direkt an der Tür von einem dicken, schwitzenden Mann mit Vollglaze, in einem hellen , zerknitterten Anzug, um eine Auskunft gebeten. Der Schaffner wälzte die Seiten eines kleinen Buches, redet mit dem Mann... alles schien ganz normal.
Micha und seine Mutter sahen wortlos zu.
"Wir werden den Schaffner fragen", sagte sie.
Der schwitzende Mann schaute, während der Schaffner zu ihm sprach, wie zufällig zu Micha und Mam ins Abteil und tupfte sich ständig mit einem weißen Taschentuch die Schweißtropfen von der Stirn. Er bedankte sich für die Auskunft mit einem Kopfnicken und ging.
„Hast du den gesehen?“ fragte Mam, zeigte mit dem Finger in Richtung Abteiltüre und schaute Micha fragend an.
Micha nickte nur stumm. Mam zog die Abteiltür auf und fragte den Schaffner, der sich schon wieder entfernen wollte, ob er wisse, warum die alte Dame das Abteil gewechselt habe.
"Welche alte Dame?" fragte der Schaffner, während er vergeblich versuchte, seinen Kuli in einem schwarzen Buch zu verstauen. „Irgendwie muss der doch da rein…na also“, zufrieden klemmte er das Buch unter die Achsel, trat ins Abteil und wandte sich zu Mam.
"Die Dame, die mit uns hier im Abteil war!" sagte Mam ungeduldig und zeigte mit dem Finger auf den leeren Fensterplatz, ohne ihren fragenden Blick vom Schaffner abzuwenden.
"Tut mir leid", sagte der Schaffner kopfschüttelnd. "In diesem Zug gibt es einige alte Damen und ich kann mir beim besten Willen nicht alle…."
"Aber Sie waren doch vorhin da und haben gefragt, ob jemand zugestiegen sei", unterbrach ihn Mam aufgeregt.
"Sicher", nickte der Schaffner.
"Und da muss Ihnen doch die alte Dame aufgefallen sein, die dort am Fenster saß!"
"Tut mir leid. Ich kann mich nicht erinnern." erwiderte der Schaffner knapp und schaute auf die Uhr am Handgelenk, als wolle er ausdrücken: ich habe jetzt keine Zeit für Geplauder.
"Aber... ", Micha schaltete sich ins Gespräch ein und wollte die Zeitung hochnehmen, um dem Schaffner den Schuh und die Spritze zu zeigen, doch er fing einen beschwörenden Blick seiner Mutter auf, so dass er mitten in der Bewegung innehielt und sich am Kopf kratzte:
" ..das verstehe ich nicht", beendete er den Satz.
"Nächster Halt Elmsbüttel", sagte der Schaffner und verließ ohne ein weiteres Wort das Abteil.
Als die Tür wieder - rumms - geschlossen war, fragte Micha:
"Was hattest du denn dagegen, ihm diese Sachen zu zeigen?!"
"Wer weiß, vielleicht steckt er mit irgendwem unter einer Decke. Man kann heutzutage niemandem trauen." Mam flüsterte leise, als hätte sie Angst davor abgehört zu werden.
"Mam, du guckst zu viele Krimis."
Als der Zug in Elmsbüttel Nord hielt, beugten Micha und seine Mutter aus dem Abteilfenster. Eine Gruppe junger Leute mit Rucksäcken stieg aus, sonst niemand. Mam setzte sich wieder und Micha schob das Fenster wieder hoch, als der Zug anrollte. Es regnete immer noch, und bis zur nächsten Station würde es fast eine halbe Stunde dauern.
Micha legte den Schuh und die Spritze mitsamt der Zeitung wieder unter die Sitzbank.
"Tun wir am besten auch so, als wäre alles okay", hatte Mam eindringlich gesagt und Micha hatte genickt.
Er überlegte. Seltsame Sache, in die sie da hineingeraten waren; und er wusste nicht, wie sie ausging. Aber er wusste, wie es begonnen hatte - nämlich mit seiner Prahlerei, seine Eltern wieder zusammenzubringen. Sandra hatte ihn zwar ausgelacht... und dennoch, es hatte geklappt - und das war exakt der Grund für diese seltsame Reise.
Obwohl -, genau genommen begann alles mit dieser blöden Wunderlampe, die er beim Großvater gefunden hatte - oder nein, es begann damit, dass sein Vater ihn im letzten Sommer in die Ferien abholte. Genau, so war es. Damit fing es an. Am Vormittag war er noch mit Chris im Schwimmbad gewesen und während sie auf ihren Handtüchern lagen und Sonne tankten, um sich vom kalten Nass zu befreien, hatte ihm Chris diese verrückte Geschichte von dem Ufo erzählt. Micha erinnerte sich noch ganz genau, wie er sich wunderte, dass das große Ufo in Chris' Zimmer passte.
Читать дальше