"Gleich fängt es an zu regnen", sagte sie unvermittelt zu Micha und beugte sich ihm ein wenig entgegen, während sie sich auf ihrem geschlossenen Regenschirm, mit gebogenem Holzgriff abstützte, den sie wahrscheinlich auch als Gehstock benutzte. Ihre Stimme war ein wenig krächzend und zittrig und erinnerte an eine alte Hexe aus einem Märchenfilm.
Micha schaute sie kurz und verschämt an, nickte stumm, drehte seinen Kopf wieder zum Fenster und betrachtete die tief hängenden Wolken.
"Aber das ist nicht so schlimm", fuhr sie fort, "mein Sohn holt mich mit dem Wagen ab."
Wieder nickte Micha, blickte nur kurz zu ihr herüber und fixierte sofort wieder das Fenster.
"Bitte, Mam, mach die Augen auf!" dachte er, "red' du mit ihr. Ich hab wirklich null Bock."
Als hätte sie Michas Stoßseufzer vernommen, öffnete Mam die Augen. Draußen fielen die ersten schweren Tropfen, klatschten gegen die Scheiben wobei sie im Zickzack- Kurs, beinahe waagerecht, vom Fahrtwind getrieben die Fenster hinunterkullerten.
"Eben hab' ich es zu dem jungen Mann gesagt", wandte sich die alte Dame nun mit einem freundlichen Lächeln an Mam, 'gleich wird es regnen'."
Mam nickte bestätigend und nahm zugleich eine aufrechtere Sitzposition ein:
"Kein Wunder. Es soll sogar richtig stürmisch werden, laut Wetterbericht!" Mam deutete mit den Augen zum Fenster, als sie das sagte und die alte Dame musste unvermittelt den Kopf drehen, um das Wettergeschehen zu betrachten.
"Nein, tatsächlich? Was für ein abscheuliches Wetter." Sie schaute mit großen Augen wieder zu Mam und klopfte sie ein paar Mal mit der Schirmspitze auf den Boden und schüttelte zudem ihr ergrautes Haupt.
Mam nickte schweigend und hob dabei leicht die Augenbrauen, als wolle sie sagen: da kann man nichts machen!
Micha sah unbeteiligt aus dem Fenster. Die Landschaft zerfloss hinter dem grauen Regenschleier zu etwas Unbestimmtem, geheimnisvoll Unwirklichem. Er war seiner Mutter dankbar, dass sie ihn von der Last eines so faden Gespräches befreit hatte.
"Wir müssten jetzt bald in Elmsbüttel sein", fuhr die alte Dame fort und spielte nervös an dem Griff ihres Schirmes herum.
"Ach?" fragte Mam und nickte leicht mit dem Kopf.
"Da habe ich vor vielen Jahren meinen ersten Mann kennengelernt", fuhr die alte Dame mit einem freundlichen Lächeln fort, "er war ein gebürtiger Elmsbüttler. Er hatte dort die Metzgerei seines Vaters übernommen."
"Tatsächlich?" entgegnete Mam und setzte höflichkeitshalber einen interessierten Blick auf.
"Seine Familie und die Familie meines Onkels mütterlicherseits waren Nachbarn. Ich war früher oft zu Besuch dort, solange wir Kinder waren. Und nie ist er mir begegnet. Obwohl er doch im Nachbarhaus lebte. Aber als ich dann als Backfisch - oder Teenager, wie man heute sagt - " fügt sie mit einem verständnisvollen Lächeln in Michas Richtung hinzu- "nach Hamburg wollte und noch ein letztes mal nach Elmsbüttel kam, um mich von meinen Verwandten zu verabschieden - da traf ich ihn! Das war Schicksal. Oder höhere Fügung."
Micha tat, als hörte er nicht zu und beobachtete die Regentropfen, die immer neue bizarre Figuren auf die Fensterscheibe zeichneten.
"Ja, das Schicksal geht oft seltsame Wege", sagte Mam, drehte den Kopf in Richtung Fenster und blickte nachdenklich anmutend ins Leere.
"Wie bitte?!" dachte Micha.
Wenn das die Unterhaltung erwachsener Leute war, wollte er lieber ein Schweigegelübde ablegen und sein Leben im Kloster beenden. Obwohl - ein Leben im Kloster...
Das Rumpeln der Abteiltür riss ihn aus seiner Überlegung.
"Hier noch jemand zugestiegen?" fragte der Schaffner, dessen blaue Uniform bestimmt nicht maßgeschneidert war, eher zwei Nummern zu groß. Er schaute einmal kurz, routinemäßig in die Runde und man sah an seinem gelangweilten Gesichtsausdruck, dass er diesen Job schon viele Jahre absolvierte.
Die Antwort war ein Schweigen.
Ein erneutes Rumpeln - und die Tür war wieder zu.
"Mam, krieg ich ‘ne Cola?" Micha legte ein freundlich charmantes Gesicht auf, während er sie fragend und mit großen Augen, denen man nichts abschlagen kann, anblickte.
"Da wirst du dich gedulden müssen, bis der Mann mit dem Getränkewagen vorbeikommt", erwiderte Mam.
"Oh, ich glaube, in Glückstadt wurde ein Speisewagen angängt", sagte die alte Dame ziemlich bestimmt und klopfte erneut mit ihrem Schirm auf den Boden.
"Wunderbar, dann werden wir mal eine kleine Kaffeepause einlegen. Würden Sie solange unsere Sachen im Auge behalten?“ Mam deutete mit einem leichten Kopfnicken auf ihren Koffer und Michas Rucksack im Gepäcknetz.
Damit stand sie auf und schob Micha aus dem Abteil. Rumms! Die Tür war zu.
Auf dem Gang fragte Micha:
"Ich glaube, die Oma wäre am liebsten auch mitgekommen, oder?"
"Sah so aus. Aber wir waren schneller", grinste Mam und ging, Micha vor sich her dirigierend, in Richtung Zugende.
Während sie im Speisewagen saßen, war der Regen noch stärker geworden. Micha konnte von der Landschaft fast nichts mehr erkennen. Es war draußen so düster, dass man sogar die Lampen in den Waggons in Betrieb setzte.
Er genoss es jetzt doch noch, zusammen mit seiner Mutter eine Eisenbahnfahrt zu unternehmen. Noch lieber wäre ihm allerdings, wenn auch sein Vater mitgekommen wäre - schließlich hatte Micha sich eine Menge einfallen lassen, um ihn wieder zurück nach Hause zu holen.
"Natürlich funktioniert Magie!" hatte Michas Großvater früher mal auf Michas Frage geantwortet. Micha hatte diesen Satz noch genau im Ohr. Und der Großvater hatte Recht. Micha wusste es jetzt aus eigener Erfahrung. Schließlich war Paps nach 7 Jahren Trennung tatsächlich wieder nach Hause gekommen...
Aber Micha hütete sich, darüber auch nur ein Wort zu verlieren.
Er durchlöcherte die Zitronenscheibe in seiner Cola mit dem Trinkhalm und fragte sich, ob Mam wohl etwas von seinem kleinen Geheimnis ahnte.
"Ist dir eigentlich nichts aufgefallen?" fragte Mam und schaute Micha mit großen Augen an.
"Nein, was?" Micha nahm einen kräftigen Zug Cola mit dem Röhrchen.
"Die Frau in unserem Abteil... "
"Was ist mit ihr?", wieder schlürfte er mit dem Röhrchen in seiner Cola.
"Ich weiß nicht... ", Mam zupfte abwesend an ihren Haaren herum und schaute nachdenklich aus dem Fenster.
"Dass sie soviel redet?" Micha lehnte sich auf seinem Sitz zurück und schaute Mam nachdenklich an.
"Nein, das meine ich nicht. - Sie wirkt irgendwie merkwürdig, so aufgeregt..."
"Ist mir nicht aufgefallen", sagte Micha und widmete seine Aufmerksamkeit wieder ganz seinem Getränk.
"Sie guckt uns immer so von der Seite an. Und jeden, den sie draußen auf dem Gang sieht, mustert sie wie ein Polizist. Hast du das nicht bemerkt? Außerdem war sie irgendwie nervös, oder aufgeregt."
Micha schnorchelte mit dem Röhrchen die letzten Tropfen aus dem Glas, "Ist das wahr?" fragte er schluckend.
"Wenn ich's dir sage!" erwiderte Mam und schaute Micha mit großen Augen an.
"Ja und, was bedeutet das, ich meine, was denkst du?" sagte er mit erhobenen Brauen und war jetzt sichtlich an einer ernsthaften Antwort interessiert.
"Ich weiß es nicht. Ich habe nur so ein merkwürdiges Gefühl..." Mam schaute wieder aus dem Fenster und guckte eigentlich ins Leere.
"Meinst du, sie will unser Gepäck klauen?" Fragte Micha mit einem ironischen Unterton.
Mam durchwühlte plötzlich nervös ihre Handtasche.
"Was suchst du denn?" fragte Micha.
Aber seine Mutter suchte schweigend und wie es schien, recht aufgeregt, weiter.
"Mam, was suchst du!" Micha beugte sich ein wenig vor und blickte in Richtung der geöffneten Handtasche.
Mams Gesicht entspannte sich; sie klappte die Handtasche zu und legte sie auf den Sitz neben sich.
"Nichts, nichts. Alles in Ordnung. Magst du noch eine Cola?"
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