"Willst du dich über mich lustig machen?", fauchte sie ihn empört an. "Schon gut, lass dich nicht aufhalten. Du hattest ja Recht, dass dies alles nichts bringt. Aber wenn du es wissen willst, ich hatte das starke Gefühl, dass es wichtig war, was ich vorhatte. Und was habe ich erreicht? Ein Buch habe ich. Ja, und was soll ich mit ihm anfangen?"
"Wie wäre es mit lesen?", schlug Rugar vor und reichte ihr das dünne Buch.
Sie blieb stehen, nahm es und hätte es ihm vor Wut beinahe wieder ins Gesicht geschleudert. Doch dabei fielen ihr einige Seiten zu Boden und automatisch bückte sie sich, um diese aufzuheben. Dabei bemerkte sie, dass die Seiten nicht mehr leer, sondern eng, Zeile für Zeile, beschrieben waren. Verwundert blieb sie in der Hocke sitzen und schlug das Buch auf. Dort bot sich ihr der gleiche ungewöhnliche Anblick. Seite für Seite war beschrieben, mit fein säuberlicher Schrift. Ab und zu waren einige Fehler ausgebessert und manchmal waren einige Sätze kaum mehr wegen des Alters zu lesen. Fasziniert blätterte sie die Seiten durch und merkte dabei kaum, dass Rugar weiter gegangen war.
"Warte!", rief sie ihm hinterher. "Nur einen Moment."
Sie war so sehr in das Buch vertieft, dass sie nicht sehen konnte, wie er die Augen verdrehte und kurz inne hielt. Dann kam er doch zurück, gab seinem schwarzen Hengst die Zügel frei und setzte sich auf den sonnengewärmten Boden.
"Was hältst du davon, wenn du es später liest, wenn wir sowieso eine Rast machen werden."
"Gar nichts halte ich davon.", entgegnete sie. "Wenn wir Rast machen werden, wird es dunkel sein und es ist kein Licht mehr zum Lesen, also werde ich die Zeit nutzen solange es hell ist. Wir können die Nacht durchreiten."
"Was hältst du vom Schlafen?"
"Wenn du müde bist, schlaf jetzt. Wir werden eine Nacht ohne auskommen."
"Schön, dann bleib hier und lies und ich reite in der Zwischenzeit weiter. Du kannst meinetwegen nachkommen. Vielleicht treffen wir uns morgen früh irgendwo." Der Klang seiner Stimme verriet, wie ernst er es diesmal meinte. Sie hatte seine Geduld schon mehr als genug strapaziert.
Seufzend stand sie wieder auf. "In Ordnung, gehen wir.", stimmte sie widerwillig zu. Noch während sie weiter den Hügel hinab lief, konnte sie ihren Blick nicht mehr von dem Buch lassen.
"Ist es denn wenigstens hilfreich?", fragte er kopfschüttelnd.
"Das weiß ich noch nicht genau.", gestand sie. "Es ist ein wenig seltsam, dieses Buch. Es ist eine Art Geschichte, herausgenommen aus dem Zusammenhang der Mythen über die Götterwelt. Angeblich sei Sherina nicht wirklich eine Göttin, sondern der oberste Herr Ulasta habe sie zu sich kommen lassen, aus Liebe zu ihr. Später bekamen sie einen Sohn, der das Blut der Götter unter das Auserwählte Volk bringen soll. Sein Name wird hier nicht erwähnt, es wird von ihm nur als der Herrscher der Nacht gesprochen."
Rugar dachte eine Weile darüber nach. "Wurde das vorher schon einmal irgendwo erwähnt?", erkundigte er sich.
"Nein." Rawnes schüttelte den Kopf. "Da bin ich mir sicher."
"Ich frage mich nur, was daran von solcher Wichtigkeit ist, dass jemand verhindern wollte, dies leserlich zu erhalten.", teilte er ihr seine Überlegungen mit.
"Das wir es jetzt wieder lesen können, bringt uns leider auch nicht mehr besonders viel. Aus der Mitte fehlen ziemlich viele Seiten oder sind nicht in der richtigen Reihenfolge.", stellte Rawnes fest.
"Lese den Schluss.", forderte er sie auf.
"Den Schluss?", fragte sie irritiert nach.
"Vielleicht wissen wir dann, worum es wirklich geht.", meinte er. "Niemand macht sich Sorgen um dieses Buch, wenn es um irgendwelche göttlichen Familienprobleme geht."
Rawnes tat, was er vorschlug und las den letzten Satz. "Und schließlich werden sie sich erheben aus den Schatten der Erde und die Welt wird unter ihnen erbeben und das Dämonenheer erzittern -- vor den Hütern der Nacht. Gefürchtet wird ihre Macht sein und weder Gott noch Dämon wird seine Hand gegen sie erheben können."
Beide blieben stehen und starrten eine Weile vor sich her. "Ist das gut oder schlecht?", fragte sich Rawnes laut, doch sie wusste, dass es darauf eigentlich kaum eine Antwort gab.
"Ich denke, es könnte gut werden.", überlegte Rugar. Sie sahen sich an und wussten beide, etwas würde geschehen, mit dem sie bisher nicht gerechnet hatten. In diesem Moment wurde ihnen bewusst, dass sie alles bisher zu leicht genommen hatten. Justaka war wieder hier, doch ihnen war nicht klar gewesen, was dies eigentlich bedeutete. Jetzt hatten sie die Gefahr direkt vor sich und wussten sie auch nicht, was die geheimnisvolle Andeutung des Buches besagte, ahnten sie, dass ihre Vorhaben alles andere als leicht sein würden. Die Gefahren waren weitaus größer, als sie sich einzustehen gewagt hatten. Doch jetzt war es zu spät und sie hatten so gut wie verloren, denn gegen die Macht, der sie sich stellen wollten, hatte kaum ein lebendes Wesen eine Chance.
STALCA
Unruhig wälzte er sich im Schlaf hin und her. An den Großteil seiner wirren Träume konnte er sich hinterher nicht mehr erinnern. Immer wieder sah er den schwarzen Schatten in der Höhle stehen, trotz dass er ihm im Traum sehr viel näher war als in der Wirklichkeit, konnte er sein Gesicht noch immer nicht erkennen. Es war eine unebene Fläche hinter einer fast zugezogenen Kapuze und doch konnte er den kalten Blick deutlich spüren.
Die Gestalt streckte die Hand aus, zuerst dachte er, sie wolle nach ihm greifen und er wich zurück. Doch sie folgte ihm nicht, hob beide Arme empor und murmelte mit einer tiefen, rauen Stimme einige unverständliche Worte in einer fremden Sprache.
Plötzlich schien es Stalca, als wären sie nicht länger allein, ein ebenso unbestimmtes Gefühl, wie es ihn in der Mine verfolgt hatte. Aber irgendetwas war mit einem Mal hinter dem Unbekannten. Er glaubte etwas in der Dunkelheit aufblitzen zu sehen, einen beißenden Geruch nach Verbranntem wahrzunehmen und dann wallte ihm eine Wand aus Feuer entgegen.
Entsetzt schrie er auf. Schweißgebadet schreckte er aus dem Schlaf und saß aufrecht im Bett. Eine Hand legte sich sanft auf seine Schulter, drückte ihn vorsichtig wieder zurück und ein Fremder sprach leise auf ihn ein.
"Beruhige dich, mein Junge, du hast nur geträumt."
Obwohl er nicht einmal wusste wo er war und wer neben ihm saß, schien er kaum richtig aufzuwachen. Noch immer hielt ein dichter Nebel ihn umfangen und zog ihn zurück in die Dunkelheit. Diesmal jedoch schien er sich tatsächlich zu entspannen, wurde noch immer von unverständlichen Träumen geplagt, aber sie verloren allmählich von ihren Schrecken.
Irgendwann sehr viel später erwachte er in aller Ruhe. Er lag in einem weichen Bett mit einem richtigen Kopfkissen und einer warmen Daunendecke. Noch nie zuvor hatte er auf einer Matratze geschlafen, geschweige denn in einem Bett. Es war nicht schlecht, wenn auch ungewohnt.
Seine Schlafstelle stand in einem kleinen, aber gemütlichen Raum. Eine Öllampe brannte neben ihm auf einer schmalen Kommode. Auf der gegenüberliegenden Seite stand ein breiter Schrank und auf den Dielenbrettern war ein warmer Teppich ausgebreitet. Die Fenster waren abgedunkelt, dahinter war es bereits taghell.
Unsicher stand Stalca auf und wagte sich durch die Tür. Er fand sich in einer noch kleineren Küche wieder, in der ein Tisch mit zwei Stühlen und ein Ofen Platz fanden, auf dessen einziger Kochstelle ein Topf stand und vor sich hin brodelte. Neugierig öffnete er den Deckel ein Stück breit und der würzige Geruch einer fertigen Suppe schwebte ihm entgegen. Nun spürte er auch seinen leeren Magen, der ihn zu plagen begann, doch er wollte sich nicht einfach etwas nehmen, wonach er nicht gefragt hatte.
"Bediene dich ruhig.", erklang eine freundliche Stimme von der Tür her.
Erschrocken drehte sich Stalca herum und blickte in das vertrauenerweckende Gesicht des Isk-Meisters, dem er zuvor im Wald begegnet war. Doch nach ihrem Treffen erinnerte er sich an nichts mehr. Er fragte sich, was ihn derart erschöpft haben mochte.
Читать дальше