„Ich muss einige Auswertungen vornehmen“, meinte Lauren und schwebte davon.
Rayhn holte sich auf seinen Bildschirm eine Schaltkreisdarstellung. Irgendwo musste ihm ein Fehler unterlaufen sein. Er studierte nochmals eingehend das Schaltbild auf dem Bildschirm und verglich es mit seinen Ausführungen.
„Hallo Rayhn“, kam die dunkle, unverwechselbare Stimme Alexejs aus der Sprechanlage, „ist John bei dir? Hier sein nochmal Branden. Er muss sprechen mit John.“
„Nein“, sagte Rayhn, „ich habe ihn ungefähr seit zwei Stunden nicht mehr gesehen. Wahrscheinlich hat er sich schlafen gelegt.“
„Okay“, meinte Alexej, „ich melden an Branden.“
Es begann nun zu dämmern in der ISS. Die Raumstation flog der sonnenabgewandten Seite der Erde entgegen. Die Lichtsensoren reagierten und schalteten automatisch die Beleuchtung in den einzelnen Modulen und im Gemeinschaftsraum ein, sofern es von der vorher vorgenommenen manuellen Einstellung zugelassen wurde.
Rayhn flog das zweite Mal mit auf der Raumstation. Als Kommandant verfügte er über Entscheidungsbefugnisse. Rayhn bemühte sich, Entscheidungen weitgehend demokratisch vorzunehmen, wenn sie sich im Rahmen der Bestimmungen bewegten. Lag eine Entscheidung außerhalb der festgelegten Bestimmungen für diese Raummission, so musste Rayhn entscheiden. Seine Entscheidungsbefugnisse waren wiederum eingekleidet in einen Entscheidungsrahmen. Musste auch dieser Entscheidungsrahmen verlassen werden, war vorher umgehend die Bodenstation zu informieren.
Nach dem Mittagessen ruhte Rayhn ein wenig in seinem Modul. Er schnallte sich an und schlief dann bald ein.
Drei Uhr Bordzeit. Rayhn begab sich wieder an seinen Arbeitsplatz. Dieser recht einfache Schaltplan ließ ihm keine Ruhe. Außerdem sollte John die Faser in den Kabelkanal stecken. Wo war er eigentlich? Wenn er sich schlafen gelegt hatte, so müsste seine Ruhezeit bereits längst beendet sein. Litt er erneut an seiner Übelkeit? Die Tabletten hatte er jeweils griffbereit. Rayhn wurde unruhig und rief John über die Bordanlage. „Hallo John. Hast du endlich ausgeschlafen?“
Keine Antwort.
„John, was ist mit dir?“
Wieder keine Reaktion.
Rayhn löste sich von seinem Haltegurt, schwebte von seinem Arbeitsplatz quer durch die schmale Verbindungsröhre und steuerte das Modul von John an.
„Hallo John, schläfst du?“
Keine Antwort.
„John, geht es dir nicht gut?“
Nichts.
„John, ich öffne jetzt den Verschluss!“ Nichts regte sich in Johns engem Modul. Rayhn löste die beiden Klettverschlüsse, schob die Falttür zur Seite und schaute hinein. Das Modul war leer.
Da wird er sich wohl bei Lauren aufhalten. Rayhn schwebte zum nahe gelegenen Modul von Lauren. Sie hatte die Falttür offen stehen. An der Seite hatte sie sich mit ihrem Gurt eingehakt und studierte in einem Buch.
„Hallo Rayhn, welch hoher Besuch“, spöttelte sie ein wenig.
„Hallo Lauren, entschuldige die unvorhergesehene Störung. Ich suche John.“
„Den habe ich seit Stunden nicht mehr gesehen. Wenn du schon hier suchst, dann kann ich davon ausgehen, dass er sich nicht in seinem Modul aufhält.“ „Genauso ist es, Lauren.“
„Ah, du brauchst ihn also immer noch, um dieses Drähtchen in den Kabelkanal zu drücken. Auf meine zarten Händchen willst du ja leider verzichten. Lass es mich mal versuchen.“ Sie schaute Rayhn dabei mit ihren dunklen Augen an.
„Wenn du dir ganz große Mühe gibst, könntest du mir bestimmt eine große Hilfe sein und das Drähtchen in den Kanal einfügen. Eigentlich bezweifle ich das auch nicht. Wenn du ein wenig Geduld aufbringst, wirst du das bestimmt schaffen.“
„Aha, versöhnliche Worte. Ich helfe dir gerne.“ Lauren legte wieder ein etwas erotisches Timbre in ihre Stimme und lächelte Rayhn geheimnisvoll an.
„Lauren, bitte lass das. Du weißt, der Feind könnte mithören.“ Damit meinte Rayhn die Bodenzentrale, die sich jederzeit einschalten und hören konnte, was gesprochen wurde. Fairerweise, wurden, so hofften jedenfalls Rayhn und alle anderen Besatzungsmitglieder auch, das Einschalten der Mikros und das Mithören von der Bodenstation vorher angekündigt.
„Schau mal bei Alexej vorbei. Dort wird er bestimmt sein.“ Ihre Stimme klang leicht unterkühlt.
„Bitte sei mir nicht böse. Ich bin nur etwas unruhig wegen John, weil er zu Beginn unseres Aufenthalts hier oben einige Tage seine Übelkeit hatte.“
„Schon gut“, lächelte nun Lauren, „das mit der Übelkeit ist längst vorbei. Da fällt mir ein, dass John gestern erwähnt hat, dass er im Lagerraum nach einer Plastikschale oder so was Ähnlichem suchen wolle.“
„Also gut, ich ‚spaziere erst mal zu Alexej, obwohl ich weiß, dass der seit Tagen fast verbissen an seinem Projekt arbeitet und vermutlich für Besuch keine Zeit hat.“
Rayhn schwebte in Richtung russisches Modul und rief einige Meter vorher: „Hallo Alexej, ist John bei dir?“
„Nein, ich ihn haben vorher gesehen, heute Morgen.“
„Danke, Alexej, ich werde auch nicht weiter stören.“
Rayhn flog als nächstes zum Toilettenraum, schob die Falttür zur Seite und schaute in den engen Raum hinein. Leer.
Anschließend schwebte er zum Lagerraum. Er war verschlossen. Rayhn drückte dennoch die Verschlusshebel nach unten, öffnete die Tür, schaute flüchtig hinein und drückte wieder sorgfältig die Verschlusshebel nach oben.
Merkwürdig, dachte Rayhn, wo kann der sich denn verkrochen haben?
Er schwebte zu den beiden restlichen Modulen, die während dieser Besatzungszeit nicht benutzt wurden und schaute hinein. Leer. Beide leer.
Die Unruhe von Rayhn steigerte sich. Wo konnte John stecken?
Die Bodenstation meldete sich über die allgemeine Sprechanlage, bei der jeder mithören und auch reden konnte. Rayhn erkannte Andrews Stimme. „Hallo Jungs und Mädel, wie ist euer Wohlbefinden?“
„Bestens“, rief Lauren.
„Haben dir Huhn und Reis geschmeckt?“, spöttelte Andrew ein wenig, „Branden hat mir erzählt, du wärest total begeistert gewesen.“
„Die nächsten Hühner mit Reis werde ich hier aus dem Fenster werfen, damit sie für die nächste Ewigkeit euren Planeten umkreisen“, rief Lauren.
„Naja“, entgegnete Andrew, „in drei Wochen ist es auch wieder dein Planet und du wirst bestimmt nicht erfreut sein, wenn du weißt, dass ihn tote Hühner mit Reis umkreisen.“ Er lachte. „Hallo Rayhn, alles okay?“
„Nna, eigentlich schon“, entgegnete der etwas unsicher.
„Was ist los, Rayhn?“, erkundigte sich Andrew sofort, „du hörst dich etwas besorgt an.“
„Es geht um John.“ „Was ist mit ihm?“
„Ich glaube, er spielt Verstecken mit uns.“
„Das ist aber gar nicht die Art von John“, bemerkte Andrew. „Wo ist er jetzt?“
„Ich denke, dass er vorne im Versorgungsraum ist und die Sprechanlage nicht gehört hat“, sagte Rayhn. „Es ist der einzige Raum, in dem er nicht nachgeschaut hatte und nur dort konnte er sein.“
„Sag John, er soll sich mal kurz bei mir melden, damit wir wissen, dass alles okay ist.“
„Wird gemacht“, entgegnete Rayhn.
Andrew fragte Informationen ab von Alexej, Lauren und Rayhn und verabschiedete sich wieder.
Rayhn schwebte zum Versorgungsraum und öffnete die Stahltür. Überwachungscomputer und Versorgungsgeräte summten und brummten. Von John keine Spur.
Nun ergriff Rayhn die Unruhe. Er schwebte nochmals zu allen nicht benutzen Räumen und schaute erneut hinein. Nichts. Das konnte nicht wahr sein. Wer spielte hier mit ihm einen Streich? Als er bei Lauren gewesen war, hatte sie ihn mit ihren dunklen und frechen Augen so merkwürdig angeschaut. Bestimmt führte sie ihn an der Nase herum, beruhigte er sich selbst.
Rayhn schwebte zu seinem Arbeitsplatz und begann wieder, seine Arbeit aufzunehmen. Sicher würden gleich Lauren und John hier erscheinen und Rayhn lachend den gelungenen Streich erzählen. Dennoch, die Art von John war es nicht, sich auf derartige Albernheiten einzulassen. Bei Lauren hingegen konnte sich Rayhn das gut vorstellen. Er beugte sich über die Schaltpläne und versuchte erneut, den Fehler zu finden. Die Konzentration bei Rayhn war
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