„Hey John, warum lächelst du? Woran hast du gedacht?“, fragte Lauren Roalstadt mit einem verführerischen Lächeln. Dabei stieß sie sich vorsichtig vom Boden ab und vollführte in der Schwerelosigkeit der ISS einen Salto rückwärts. Das klappte bei ihr zwischenzeitlich bestens. Nach einer Vielzahl von Fehlversuchen, bei denen sie sich zu heftig vom Boden oder von einem Gestänge abgestoßen und dabei mehr als einmal quer durch den Gemeinschaftraum gesaust und sich an Geräten und Gestängen blaue Flecken geholt hatte, hatte sie es gelernt, den Schwung genau zu dosieren. Es machte ihr besonderen Spaß, mit ausgebreiteten Armen an der Decke zu schweben. Vor ihrer Nase schwebte ein Buch oder ein Bericht, der in dieser Haltung von ihr gelesen wurde. Beim Umblättern der Seiten musste sie dann jeweils wieder die Position des Buchs oder des Berichts sorgfältig justieren, um den Leseabstand einzuhalten.
Meistens hatte Lauren gute Laune und war oft zu Späßen aufgelegt. Besonders in den ersten Tagen auf der ISS hatte sie ihre drei Kollegen gerne geneckt. In der Schwerelosigkeit ist es völlig gleichgültig, ob man an der Decke arbeitet, auf dem Boden oder an der Wand. Die Gewohnheit brachte es mit sich, dass in den ersten Tagen
alle am Boden arbeiteten. Lauren suchte sich einen Kollegen aus, schwebte von hinten langsam über ihn bis zu seiner Kopfhöhe, neigte von oben den Kopf nach unten, um ihn dann in dessen Augenhöhe und mit tiefer Stimme anzusprechen. Rayhn Grant hatte sich beim ersten Mal so sehr erschreckt, dass er sie ausschimpfte. Kurz darauf hatte er sich bei Lauren entschuldigt und beide mussten herzhaft lachen. Wie soll man auch plötzlich davon ausgehen können, dass eine Person sich von hinten lautlos waagerecht in Kopfhöhe anschleicht?
Als sie diese Kapriole bei John anwandte, stieß der vor Schreck einen Schrei aus, als hätte er die erste Begegnung mit einem Außerirdischen. Dabei vollzog er eine reflexartige Bewegung, die zu einem dreifachen Salto führte. Anschließend bekam sich John vor lauter Lachen nicht mehr ein.
Nur beim Russen Alexej klappte ihr Trick nicht. Der blieb cool und antwortete Lauren mit noch tieferer Stimme als er sie normal schon hatte.
Alle vier Astronauten hatten sich nach ein paar Wochen in der ISS gut eingelebt. Intensiv und mit Eifer wurden Forschungsarbeiten betrieben. Jeder arbeitete an seinen Aufgabenstellungen. Rayhn hatte das Kommando der Crew und war damit gleichzeitig der direkte Ansprechpartner der Bodenstation Houston. Sowohl die Kommunikation der Crew untereinander als auch mit Houston verlief bestens. Fast dreieinhalb Monate war die Mannschaft in der ISS auf engstem Raum untergebracht und in drei Wochen sollte die Ablösung kommen. Es war bisher eine spannende und abwechslungsreiche Zeit gewesen. Viele Gespräche wurden geführt. Leider hielt sich Alexej dabei zurück. Vermutlich wegen seines merkwürdigen russischen Dialekts. Drei Amerikaner und ein Russe. Manchmal bemühte sich Lauren, die Aussprache Alexejs zu verbessern. Alexej wiederholte dann den oder die von Lauren korrigierten Sätze; bei nächster Gelegenheit sprach er wieder seinen merkwürdigen Dialekt und hatte scheinbar die Bemühungen von Lauren vergessen.
„Warum hast du mich beobachtet?“, interessiert schaute John zu.
Lauren, die einige Meter weiter bis zu ihrem Arbeitsplatz schwebte, bemerkte: „Ich habe dich nicht beobachtet. Zufällig habe ich gesehen, wie du verträumt auf unsere alte Mutter Erde geschaut hast und dabei ein Lächeln in deinem Gesicht entstanden ist. Sag, woran hast du gedacht? An deine Frau?“
„Ja, an meine Frau und die Kinder. Ich möchte für jeden einen besonderen Wunsch erfüllen, wenn ich wieder unten bin. Und gerade habe ich mir überlegt, wer sich was wünschen wird.“
„Und welcher Wunsch hat das Lächeln ausgelöst?“ Ihr schelmischer Blick war auf John gerichtet.
„Lauren, du gibst mal wieder keine Ruhe, bis du alles genau aus mir herausbekommen hast“, antwortet John lächelnd und gut gelaunt. „Ich habe gerade an meinen älteren Sohn gedacht. Der wünscht sich bestimmt einen Flug zur ISS.“
Im Mannschaftsraum der ISS versuchte Rayhn zum wiederholten Mal eine hauchdünne Faser in den Kabelkanal zu stecken. Wieder vergeblich. Er fluchte leise vor sich hin und schaute sich nach John um. Der hat die ruhigste Hand von uns allen und müsste es mit Leichtigkeit schaffen, diese blöde Faser einzufädeln. John hatte eben an seinem Notebook gearbeitet.
„Wo steckt John?“, rief er Lauren zu, die etwa sechs oder sieben Meter weiter ihre täglichen Muskelaufbauübungen praktizierte. „Keine Ahnung“, rief sie zurück. „Ich habe ihn vor einer halben Stunde zuletzt an seinem Notebook gesehen.“
„Wahrscheinlich ist er in seinem Modul und hält ein Nickerchen“, meinte Rayhn. „Wenn du ihn siehst, so sag ihm, er möchte mal kurz zu mir kommen. Ich brauche seine ruhige Hand.“
„Willst du damit verdeutlichen, dass ich keine ruhige Hand habe? Schau dir meine schlanken, gepflegten Hände an.“
„Selbstverständlich, Lauren, hast du schöne und gepflegte Hände. Hättest du genau hingehört, dann wäre dir aufgefallen, dass ich von einer ruhigen Hand gesprochen habe. Und da ist mir aufgefallen, dass du bereits die Geduld verlieren kannst, wenn du einen Faden in die Nähnadel bugsieren willst. Ist es nicht so, dass du nach John rufst, der das große Problem dann umgehend löst?“
„Schon gut, schon gut. Weißt du, was es heute zu essen gibt?“ „Was soll ich denn heute zu messen haben?“
„Essen – Rayhn – Essen“, rief Lauren von ihrem Muskelaufbautrainer.
„Nein, ich weiß nicht, was wir heute im Fach haben: Frag unten mal Branden. Der verrät manchmal, welche Speise uns als nächste erwartet. Ist dir das so wichtig?“
„Naja, ein bisschen schon. Vielleicht kann ich mich darauf freuen – oder nicht.“
„Dann lass es eine persönliche Überraschung bleiben.
„Nein, ich will es wissen“, kam es etwas trotzig zurück.
Lauren schnallte sich die Haltegurte ab. Das Trainingspensum hatte sie zunächst einmal absolviert. Sie stieß sich sanft ab und schwebte in der völligen Schwerelosigkeit hinüber zu ihrem Headset, drückte die Sprechtaste und hauchte: „Hallo Branden, kannst du mir ein Geheimnis verraten?“
„Lauren Rolstadt“, rief Branden aus dem Kontrollzentrum Houston erfreut in ihrem Kopfhörer, „dir verrat ich jedes Geheimnis!“
„Branden, welches Mittagessen wird mich heute erwarten?“
„Als Belohnung für dein soeben absolviertes Training bekommst du Huhn mit Curry und Reis.“
„Naja, das hatten wir bereits vor einer Woche“, entgegnete Lauren jetzt leicht muffig und mit gar nicht mehr erotisch hauchender Stimme.
„Lauren, soll ich dir ein Shuttle hochschicken mit chinesischen Gerichten, deinen Lieblingsspeisen?“ „Ja“, rief Lauren, „tu es!“
„Wie bitte?“, schaltete sich Rayhn jetzt ein, „was geht denn bei euch ab? Schalt mal auf Lautsprecher. Ich kann leider nur hören, was du sagst.“
„Ha, das Geheimnis verrat ich dir nicht“, rief Lauren mit
verschmitzter Miene.
Branden meldete sich wieder in Laurens Kopfhörer: „Hallo Lauren“, war jetzt seine dienstliche Stimme vernehmbar, „du kannst mir bei dieser Gelegenheit zunächst Alexej und anschließend John geben. Ich brauche von beiden einige Informationen.“
„Aye Sire“, sagte auch Lauren mit übertrieben dienstlicher Stimme, „ich werde beide suchen.“
„Hallo John, hallo Alexej, hier ist Branden am Rohr. Er braucht einige Infos von euch. Bitte übernehmt.“
Alexej Droski meldete sich aus dem russischen Modul mit seinem merkwürdigen russischen Akzent auf der Gegensprechanlage.
„Eine Rohr vierhundert Kilometern lang? Sehr interessant“, rief Alexej über die Sprechanlage. „Ich übernehmen.“
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