»Freitag, siebzehn Uhr.«
»Soll ich dich begleiten?«, fragte Eric, aber Silke schüttelte den Kopf. Sie war viel zu stolz, um sich von Eric begleiten zu lassen.
»Nein, ich ... das muss ich allein machen. So wie damals.«
»Aber du weißt, dass du jederzeit auf mich zählen kannst.«
»Natürlich.«
Nachdem Eric nach Hause gegangen war, fühlte Silke sich kraftlos. Sie kugelte sich auf der Couch zusammen und zog eine dünne Fleecedecke über sich. Ihr war kalt, obwohl draußen noch angenehme vierundzwanzig Grad waren. Sie schlang die Arme um ihren Körper und kniff die Augen aufeinander, um nicht zu weinen.
Sie hatte Angst vor Freitag. Es war eine Sache, mit einem Freund über die eigenen Probleme zu sprechen, eine andere, wenn es sich dabei um einen völlig fremden Menschen handelte.
Es hatte damals lange gedauert, bis Silke Vertrauen zu Dr. Roth gefasst hatte. Aber die Ärztin hatte alles dafür getan, dass sie sich wohlgefühlt hatte. Die Praxis war ein sicherer Raum für Silke gewesen. Ein Ort, an dem sie ihre zentnerschwere Maske ablegen und ihre Gefühle offen zeigen konnte. Niemand hatte ihre Situation schöngeredet, sie durfte weinen, in Mitleid baden und ihre Wut herauslassen. Solange, bis es ihr half und sie erkannte, dass ihr Leben weitergehen musste.
Bei einem fremden Menschen an diesen Punkt zu gelangen, stellte Silke sich schwer vor. Dr. Roth kannte ihre Vergangenheit, sie hätten nicht bei Null begonnen.
Das war nun aber der Fall. Dennoch wusste Silke, dass es ihr nur besser gehen würde, wenn sie diesen Schritt machte.
Silke massierte ihre spannenden Schläfen einige Sekunden, bevor sie die Farbtube aus dem Regal zog und sie in ein Schälchen gab. Sie fügte einen weiteren Farbton und Farbentwickler hinzu und verrührte alles. Dann nahm sie hinter ihrer Kundin Platz und stellte die Schale ab. Noch einmal kontrollierte sie die Form der Augenbrauen, die sie zuvor gezupft hatte, und bestrich sie mit der Farbe.
»Das muss kurz einwirken. Ich bin gleich zurück.«
»Danke schön.«
Silke verließ das Zimmer und schloss die Tür des Behandlungsraums leise hinter sich. Sie ging in die Küche und goss sich einen Kaffee ein, bevor sie sich seufzend auf einen Stuhl fallen ließ.
Sie wusste, dass es klüger gewesen wäre, zum Arzt zu gehen, ihre Situation zu schildern und sich krankschreiben zu lassen. Aber damit hätte sie ihrer Kollegin Carina die letzte Urlaubswoche ruiniert und das wollte sie nicht.
Silke stützte den Kopf auf einer Hand ab und sprach sich selbst Mut zu. Nur noch ein paar Stunden musste sie durchhalten, dann konnte sie nach Hause gehen. Zwei Kundinnen mit einfachen Gesichtsbehandlungen. Das würde sie hinbekommen. Sie hatte die Kraft dafür.
»Alles in Ordnung bei dir, Silke?«
Karin, die Filialleiterin, betrat die Küche und musterte sie skeptisch.
»Alles bestens, ich habe nur Kopfschmerzen«, log Silke. »Vielleicht bekomme ich eine Sommererkältung.«
»Ja, das geht im Moment rum. Meinen Schwiegersohn hat es auch erwischt. Du kannst dir vorstellen, was meine Tochter erleiden muss.«
Karin lachte laut. Sie war eine fröhliche Frau in den Sechzigern, mit kurzen, roten Haaren und strahlenden Augen. Silke arbeitete gern mit ihr, genauso wie mit Carina. Sie waren ein gutes Team und sie hoffte, dass sie ihren Job nicht riskierte, wenn Dr. Brandt die Diagnose stellte und sie möglicherweise einige Zeit ausfiel.
»Mit Männergrippe ist nicht zu spaßen.« Silke lächelte gequält und nippte an ihrem Kaffee, bevor sie aufstand.
Als sie zu ihrer Kundin in das Behandlungszimmer zurückkehrte, erwartete sie der nächste Schock.
»Verdammt«, fluchte sie bei einem Blick auf die Augenbrauen ihrer Kundin. Sie leuchteten knallig orange, obwohl es hätte braun werden sollen.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte die Frau und sah Silke durchdringend an.
»Ich habe einen Fehler mit der Augenbrauenfarbe gemacht, es tut mir so leid. Lassen Sie mich Ihre Augenbrauen reinigen und dann ... dann muss ich ...«
Silkes Hände zitterten und ein kontinuierliches Piepen setzte sich in ihren Ohren ein.
Das war ein verdammter Albtraum.
»Was soll das bedeuten, Sie haben einen Fehler gemacht? Geben Sie mir einen Spiegel.«
Unsicher reichte Silke diesen an die Frau weiter, die im ersten Moment schwieg, bevor die Worte wie ein Sturm aus ihr herausbrachen.
»Sind Sie von allen guten Geistern verlassen? Was haben Sie sich eigentlich dabei gedacht?«, schrie die Frau hysterisch und sprang von der Behandlungsliege auf. »Sie dürften überhaupt nicht hier arbeiten, so unfähig wie Sie sind!«
Von dem Krach angezogen, öffnete Karin die Tür. »Was ist hier los?«
Die Kundin drehte sich um und Karin riss die Augen weit auf.
»Was los ist? Ihre nichtsnutzige Angestellte hat mich verschandelt. Sehen Sie zu, dass Sie das in Ordnung bringen. Ich werde keinen Cent bezahlen. Das war das erste und das letzte Mal, dass ich bei Ihnen war.«
»Karin, ich ...«, stammelte Silke und ihre Augen wurden feucht. »Ich bekomme das hin.«
»Sie fassen mich nicht mehr an.« Die Kundin richtete drohend den Finger auf Silke, die erschrocken zusammenfuhr und sich immer kleiner machte.
»Es tut mir leid.«
»Pah, dass ich nicht lache.«
»Okay, wir beruhigen uns jetzt alle. Wenn ich Sie nach nebenan bitten dürfte. Ich kümmere mich sofort um Sie.«
Karin schickte die Kundin nach draußen und schloss die Tür, dann wandte sie sich an Silke, die zitternd und weinend mitten im Raum stand.
»Hey, du stehst völlig neben dir. Was ist denn los?« Karin machte einen Schritt auf Silke zu und legte ihr eine Hand auf die Schulter, um sie zu beruhigen.
»Ich wollte das nicht, Karin. Wahrscheinlich habe ich nach der falschen Farbtube gegriffen. Es ... es war keine Absicht.«
»Das weiß ich und ich bekomme das wieder hin, mach dir darüber keine Sorgen. Aber das ändert nichts daran, dass es dir offensichtlich nicht gut geht. Geh nach Hause, nimm dir auch Freitag und Samstag frei.«
»Ich will nicht, dass du Carina wegen mir aus dem Urlaub holst.«
»Das mache ich nicht, versprochen. Ich sage deine Termine ab, beziehungsweise übernehme alle, die ich zeitlich schaffe. Ich bekomme den Laden allein geschaukelt. Zur Not telefoniere ich die anderen Filialen ab und frage, ob sie jemanden entbehren können.«
»Danke, Karin.«
Niedergeschlagen verließ Silke den Raum und machte sich auf den Weg nach Hause. Ihr war nie ein derartiger Fehler passiert, nicht einmal während der Ausbildung.
Vielleicht sollte sie wirklich zum Arzt gehen und sich krankschreiben lassen ...
An der Haltestelle der Straßenbahn zog Silke ihr Handy aus der Tasche und scrollte durch ihre Kontakte. Für einen kurzen Moment wollte sie Eric anrufen, aber es gab einen anderen Menschen, der sie besser verstand, als sonst jemand.
»Silke, was ist los?«, meldete sich Jana besorgt. Offenbar war ihre Freundin doch nicht sauer auf sie.
»Hast du Zeit? Kann ich vorbeikommen?«
»Natürlich. Jessi ist ebenfalls hier.«
»Bis gleich.« Silke legte auf und atmete tief durch. Sie musste ihren Freundinnen sagen, wie es in ihr aussah. Wenn sie nicht einmal das schaffte, würde sie es auch morgen bei der Therapiestunde nicht.
Silkes Hände zitterten nach wie vor, als sie das Haus in Pieschen erreichte, in welchem Jana und Eric wohnten, und sie die Klingel betätigte. Jana öffnete ihr sofort und Silke lief die Treppenstufen in den ersten Stock hinauf.
Ihre Freundin stand im Türrahmen und lächelte sie an, bevor sie einander in die Arme schlossen. »Müsstest du nicht noch bei der Arbeit sein?«
Silke zog ihre Schuhe aus, stellte ihre Tasche in den Flur und betrat das Wohnzimmer. Sie schloss Jessi ebenfalls in die Arme und setzte sich neben sie auf die große Couch, welche die Form eines U´s hatte.
Читать дальше