Vermöge ihrer sittlichen Bedürfnisse hatte die Religion von den Göttern Heiligkeit verlangt, d. h. Sündlosigkeit, Freiheit von den Schwächen und Leidenschaften des menschlichen Herzens; einerseits die Hoffnung auf gerecht gewährten, durch Tugend verdienten Schutz, anderseits das Schuldbewusstsein hatte ja ganz wesentlich zu der Annahme schuldloser Wesen beigetragen, welche, allweise und allgerecht, die menschlichen Dinge auf Erden leiten oder doch im Jenseits Lohn und Strafe nach Verdienst verteilen sollten. Nur zu einem heiligen, sündlosen Gott kann das Menschenherz hoffend oder reumütig flüchten. Statt dieser Heiligkeit findet das religiöse Bewusstsein in den vermenschlichten, von der Einbildungskraft weitergebildeten Göttergestalten nur das Spiegelbild alles dessen wieder, was der Menschenseele den Frieden stört; Schwächen, Leidenschaften, Schuld, ja Laster und Verbrechen aller Art; Eifersucht, Rachsucht, Neid, Hass, Zorn, Verrat, Untreue jeder Art, Gewalttat, Mord. Diesen Göttern, die man in so manchem Liebes- oder Streithandel nicht nach Vernunft, Moral und Gerechtigkeit, sondern nach ihrer eigenartigen Neigung und Sinnesart hat handeln sehen, kann man nicht vertrauen, dass sie in den Geschicken der Menschen gerecht und heilig entscheiden werden.
Man sollte glauben, schon auf dieser Stufe der Entwicklung müsste verzweifelnde Abkehr von der gesamten Anschauungsweise der Götterwelt erfolgen; aber noch werden auf dem Boden dieser Welt selbst – nach zwei Richtungen – Versuche der Abhilfe gemacht. Diese Versuche sind sehr anziehend; aber sie müssen scheitern.
Das Verlangen nach Einheit der Weltbeherrschung soll auf der gegebenen Grundlage des Viel-Götter-Glaubens dadurch befriedigt werden, dass einer der höheren Götter, welcher ohnehin auch bisher schon die andern überragt hatte, nachdrucksam als der oberste Leiter und Herrscher gedacht wird, so dass die übrigen hinter ihm völlig verschwinden. Es ist diese starke Überordnung ein Ersatzmittel für den verlangten, aber nicht erlangten alleinigen, einzigen Gott. Zeus, Jupiter, Odin wird als »Vater der Götter und Menschen«, als »Allvater« gedacht; er allein entscheidet mit überlegener Macht die menschlichen Dinge, und zwar, wie man nunmehr nachdrücklich versichert, allweise, allgerecht, allheilig; – die andern Götter erscheinen nur mehr als seine Diener, Helfer, Boten und Werkzeuge.
Allein dieser Versuch kann nicht gelingen; die übrigen Götter sind einmal da, sie leben im Volksbewusstsein, das ihrer nie vergisst, vielmehr mit zäher Innigkeit an ihnen hängt; sind sie doch dem Menschen näher, vertraulicher, zugänglicher als der erhabene oberste Gott, welchen seine ernste Erhabenheit und die Unfassbarkeit seiner Grösse ferner rückt. Man wendet sich lieber, leichter, zutraulicher an die den Sterblichen näherstehenden unteren Götter und je an den besondersten Sachverständigen; man ruft um Erntesegen den Erntegott, um Liebesglück die Liebesgöttin an, man wendet sich später an die Heiligen, welche an die Stelle der alten Götter getreten sind, z. B. bei Feuersgefahr an St. Florian, bei Viehsterben an St. Leonhart. Dazu kommt, dass auch jener oberste Gott, trotz der Verkündung seiner Weisheit und Heiligkeit, keinen rechten Glauben für diese Tugenden finden kann. Einmal bleibt er, neben seiner jetzt so stark betonten Eigenschaft als allgemeiner Weltenlenker, doch daneben noch der Sondergott seines Faches, was er ursprünglich allein gewesen, und daher von den Forderungen dieses Gebietes beherrscht; Odin z. B. bleibt, auch nachdem er »Urvater« geworden, gleichwohl Gott des Sieges und der Schlachten und er hat, um die Zahl seiner Einheriar zu vermehren, den einseitigen Wunsch, dass die Könige sich blutige Schlachten liefern; – er ist also nicht mit sonderlichem Vertrauen auf geneigtes, gerechtes Gehör um Frieden anzurufen. Auch weiss man aus vielen Geschichten, die von diesem Weltenlenker erzählt werden, dass er, der unbeschränkte Alleinherr, der allein herrschen soll, selbst beherrscht wird; d. h. den Einflüssen seiner Umgebung – der weiblichen wie der männlichen – unterworfen ist; was hilft es, dass Zeus gerecht und weise regieren will, wenn es Hera gelingen kann, ihn durch weibliche Künste einzuschläfern und mittlerweile seine Pläne zu durchkreuzen? Ähnlich wie Frigga durch Schlauheit und Überraschung ihrem Gemahl die Siegverleihung an die Langobarden ablistet (s. unten).
Dies führt zu dem zweiten Versuch einer Besserung des Götterglaubens durch die Mittel des Götterglaubens selbst; da die Herrschaft auch des obersten Gottes keine Gewähr bietet für weise, gerechte, heilige Weltleitung, da man jetzt eben den Schwächen und Launen des obersten Gottes preisgegeben ist und der Eigenart seines Wesens, so sucht man, wie vorher die Vielgötterei durch ein Ersatzmittel für den einzigen Gott, so nunmehr die Vermenschlichung der persönlichen Götter zu verbessern durch ein unpersönliches Weltgesetz; man schafft ein unpersönliches Schicksal, ein Fatum, welches unabänderlich auch über dem obersten Gotte steht; so dass er dieses notwendige Schicksal nur erforschen und ausführen, nicht aber bestimmen, schaffen, ändern oder aufheben kann. So erkundet Zeus durch Abwägen auf seiner Waage das den Achäern und Troern vorbestimmte Geschick; so sucht Odin die Göttern und Riesen verhängte Zukunft zu erfahren. Dies Schicksal wird nun, in wechselnder Auffassung, bald lediglich als unabänderliche Notwendigkeit, als blindes Fatum gedacht, ohne Annahme einer der Vernunft und Gerechtigkeit entsprechenden Entscheidung. Auch solch blindes und starres Schicksal ist immerhin noch erträglicher als das Gefühl, der Spielball der unberechenbaren Launen der vermenschlichten und von Leidenschaften beherrschten Götter und ihrer Spaltungen zu sein. Indessen, die entsagende Fügung unter ein notwendiges Gesetz, welches auf das Glück des Menschen keine Rücksicht nimmt, ist dem warmen Verlangen der ungeschulten Menschenseele widerstreitend. Deshalb wird von andern Religionen oder von andern Lehren der nämlichen Religion das Schicksal als eine gerechte Vergeltung, die schon auf Erden immerdar die Tugend belohne und die schuldvolle Überhebung strafend niederbeuge, verehrt; eine Vorstellung, welche freilich gar oft durch das unverdiente Glück der Schlechten und Unglück der Guten widerlegt wird, im Leben der einzelnen wie in den Geschicken der Völker.
Merkwürdig aber ist die Wahrnehmung, wie das religiöse Bewusstsein die Zumutung, das Göttliche als Unpersönliches, als Gesetz zu fassen, schlechterdings auf die Dauer nicht erträgt; kaum hat die Götterlehre, um der Willkür der vermenschlichten persönlichen Götter zu entrinnen, das unpersönliche Schicksal aufgestellt, als sie schon wieder geschäftig Hand angelegt, dies unpersönliche – abermals zu personifizieren. Das Gesetz des Schicksals wird verwandelt in eine Schicksalsgöttin, Nemesis (welche dann freilich ausserhalb der bunten Göttergeschichten und Liebeshändel usw. gelassen wird); ja, auch der Zug der Vielgötterei bemächtigt sich dieser doch gebieterisch die Einheit verlangenden Vorstellung und stellt sie in drei Personen: drei Göttinnen der Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, auseinander gefaltet (Parzen, Nornen s. unten), dar.
Es ist klar: diese Versuche, die Götterlehre durch die Mittel der Götterlehre selbst zu reinigen, können nicht gelingen, da die Gestaltungsweise, das Werkzeug und der gesamte Boden, welche jene bedenklichen Gebilde erzeugt, dabei natürlich beibehalten bleiben und gleichmässig fortwirken. Die Folge ist, dass sich bei vorgeschrittener Bildung, nachdem die Stufe unmittelbaren, urteillos gläubigen Hinnehmens des in der Überlieferung Gegebenen überschritten ist, von solchen »Götterlehren« gerade die sittlich Edelsten und die geistig höchstbegabten und tiefstgebildeten Männer der Nation mit Gleichgültigkeit, ja mit Verachtung abkehren, da ihre sittlichen Anschauungen und ihre philosophischen Bedürfnisse und Errungenschaften durch jene Göttersagen nicht befriedigt, sondern auf das empfindlichste und empörendste verletzt werden. Dass dies bei Hellenen und Römern eingetreten, ziemlich früh bei jenen, verhältnismässig spät bei dem strenger gebundenen Wesen der letzteren, ist bekannt; sogar so altväterische Geister wie Aristophanes nahmen doch an dem Vatermord des obersten der Götter Anstoss. Minder bekannt ist aber, dass auch in dem germanischen Heidentum, nachweisbar wenigstens im Norden, schon vor dem Eindringen des Christentums sich merkwürdige Spuren ähnlicher Erscheinungen finden.
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