Wir würden daher ratlos der trümmerhaften Überlieferung einzelner, in Ermangelung des Zusammenhangs unverständlicher Bruchstücke der germanischen Götterwelt gegenüberstehen, böten nicht die Sage, dann der Aberglaube und allerlei Sitten und Gebräuche, welche sehr oft als ein Niederschlag alter Göttergestalten und gottesdienstlicher Handlungen seit grauester Vorzeit bis heute in unserm Volke fortleben, hoch willkommene Erklärung und Ergänzung in geradezu staunenerregender Fülle.
Und es ist das unsterbliche Verdienst eines großen deutschen Gelehrten, der aber zugleich die poetische Anschauung und die mitfühlende Ahnung einer echten Dichternatur in sich trug, es ist die Tat Jakob Grimms, die reichen Schätze uralter Überlieferung, welche in jenen Sagen und Sitten ruhten, mit der Hand des Meisters empor ans Licht gehoben und von den Spinnweben des Mittelalters gesäubert zu haben.
Denn die christlichen Priester hatten, teils unbewusst, teils in guter Absicht, an den im Volke noch fortlebenden Überlieferungen viele durchgreifende Veränderungen vorgenommen.
Diese Priester bestritten ja durchaus nicht das Dasein der heidnischen Götter und Göttinnen; nur sollten diese nicht, wie die Germanen sie aufgefasst, schöne, gute, wohltätige, den Menschen freundliche Schutzmächte sein, sondern hässliche Teufel, Dämonen, verderbliche Unholde, welche den Menschen auf Erden zu schaden oder sie in ihren Dienst zu locken suchen und sie dann im Jenseits, in der Hölle peinigen.
Anderseits hat aber die Kirche auch in kluger Anpassung altheidnische Feste und Gebräuche mit christlichen zusammengelegt, z. B. das Jul-Fest, die Wintersonnenwend-Feier, mit Weihnachten, das Fest des Einzugs der Frühlingsgöttin, Ostara, mit Ostern, die Sommersonnenwende mit dem Fest Johannes des Täufers; und endlich sind vom Volke viele Geschichten und Züge der Götter auf christliche Heilige übertragen worden.
Jakob Grimm hat nun mit ebenso tiefer Gelehrsamkeit wie poetischer Ahnung aus den kirchlichen Legenden die Götter und Göttinnen Walhalls wieder herausgewickelt; er hat in den Heiligenlegenden Übertragungen von Göttergestalten aufgefunden (so waren z. B. Wotan zu Sankt Martin, Freyr zu Sankt Leonhard, Baldur zu Sankt Georg, Frigg und Freya zur Madonna geworden); er hat endlich in zahllosen Spielen, Aufzügen, Festen, Gebräuchen und abergläubischen Vorstellungen des Volks, in Sage, Märchen, Schwank die Spuren der bald gewaltig schreitenden, bald leise schwebenden Germanengötter dargewiesen.
Und so hat er denn unsre ehrwürdigen Götter, welche anderthalb Jahrtausende vergessen und versunken unter dem Schutte gelegen, wieder herausgegraben und aufgestellt in leuchtender Herrlichkeit.
Denn das Gewaltigste und das Zarteste, das Heldenhafteste und das Sinnigste, ihren tragischen Ernst und ihren kindlich heitern Scherz, die Tiefe ihrer Auffassung von Welt und Schicksal, von Treue und Ehre, von freudigem Opfermut für Volk und Vaterland, ihr ganzes so feines und inniges Naturgefühl haben unsre Ahnen in ihre Götter und Göttinnen, Helden, Zwerge, Riesen hineingelegt; weil ja auch die Germanen ihre Götter und Göttinnen nach dem eignen Bilde geschaffen haben; wie Zeus, Hera, Apollo, Athena hellenische Männer und Frauen, Jünglinge und Jungfrauen, nur ins große gemalt, idealisiert, eben vergöttlicht sind, so erblicken wir in Odin und Frigg, in Baldur und Freya nur die Ideale unsrer Ahnen von Weisheit, Heldentum, Treue, Reinheit, Schönheit und Liebe.
Und dies ist die hohe, ehrfurchtwürdige Bedeutung, welche dieser Götterwelt auch für uns verblieben ist; diese Götterehre ist das Spiegelbild der Herrlichkeit unsres eignen Volkes, wie dies Volk sich darstellte in seiner einfachen, rauen, aber kraftvollen, reinen Eigenart; in diesem Sinn ist die germanische Götter- und Heldensage ein unschätzbarer Hort, ein unversiegender »Jungbrunnen« unsres Volkstums; das heißt, wer in rechter Gesinnung darein niedertaucht, der wird die Seele verjüngt und gekräftigt daraus emporheben; denn es bleibt dabei; das höchste Gut des Deutschen auf Erden ist: – sein deutsches Volk selbst.
Erstes Kapitel. Nordische Mythologie
I. Die Grundanschauungen: Entstehung der Welt, der Götter und der übrigen Wesen.
Die Germanen dachten sich die Welt nicht als von den Göttern oder von einem obersten Gott geschaffen, sondern als geworden; und in ihr, mit ihr auch die Götter als geworden.
Als ewig stellten sie sich nur vor den unendlichen Raum, den »gähnenden Abgrund«. »Nicht Sand, noch See, noch kühle Wogen, nicht Erde fand sich, noch Himmel oben, (nur) ein Schlund der Klüfte, aber Gras nirgend.«
Allmählich bildete sich am Nordende dieses ungeheuren leeren Raumes ein dunkles, kahles Gebiet: Niflheim (Nebelheim) genannt, am Südende ein heißes und helles Gebiet: Muspelheim, die Flammenwelt. Mitten in Niflheim lag ein Brunnen, Hwergelmir, der rauschende Kessel. Aus diesem ergossen sich zwölf Ströme, die »Eliwagar«, und füllten den leeren Raum; sie erstarrten im Norden zu Eis; aber der Süden ward mild durch die Funken, die von Muspelheim herüberflogen; nach der Mischung von geschmolzenem Reif und von Glut entstand aus den Dunst-Tropfen eine Gestalt menschenähnlicher Bildung; das war Ymir (Brauser) oder Örgelmir, »der brausende Lehm«, der gärende Urstoff, der noch unausgeschieden, ineinander vermischt liegenden und durcheinander wogenden Elemente. Aus Frost und Hitze entstand also der erste Organismus; er war ein »Reif-Riese« (Hrimthurs) und aller späteren Reifriesen Vater.
Im Schlafe wuchsen dem Riesen unter dem Arme Sohn und Tochter hervor, – eine Vorstellung, welche sich in den Sagen vieler Völker findet, – von denen dann alle anderen Reifriesen abstammen.
Neben dem Riesen Ymir war auch eine Kuh entstanden, Audumbla (d. h. die Schatz-feuchte, Reich-saftige?); aus ihrem Euter flossen vier Milchströme; aus salzigen Eisblöcken leckte diese einen Mann hervor, Buri (der Zeugende), schön, groß und stark; sein Sohn – die Mutter wird nicht genannt – hieß Bör (der Geborene); dieser nahm Bestla, die Tochter eines Riesen Bölthorn (Unheilsdorn), zur Frau. Dieses Paares drei Söhne hießen Odin, Wili und Wê, die drei obersten Götter. So stammen also die Götter selbst auf der Mutterseite von den Riesen ab; eine Erinnerung daran, dass die Riesen ursprünglich nicht als böse galten, sondern selbst Götter waren, nur eben Götter einer roheren, einfacheren Zeit, einer früheren Kulturstufe, bloß Naturgewalten, welchen die Vergeistigung der späteren Götter, der Asen, fehlt; ähnlich wie bei den Griechen die Titanen der olympischen Götterwelt vorhergehen. Aber auch die Asen entbehren einer Naturgrundlage nicht (Odin hat zur Naturgrundlage die Luft, Thôr das Donnergewitter); das drückt ihre Abstammung von einer riesischen Mutter aus. Wili und Wê (Wille? und Weihe?) verschwinden bald wieder; sie sind nur als gewisse Seiten von Odin selbst zu denken.
Börs Söhne erschlugen Ymir; vergeistigte höhere Götter können die bloße Naturgewalt nicht in Herrschaft und Leben lassen. In dem unermesslichen Blut, das aus seinen Wunden strömte, ertranken alle Reifriesen bis auf ein Paar, das sich in einem Boote rettete; von diesem Paar, Bergelmir und seinem Weibe, stammt dann das jüngere Geschlecht der Reifriesen ab.
Dies ist also die germanische Fassung der bei sehr vielen Völkern (z. B. den Griechen) begegnenden Sage von einer »ungeheuren Flut«, welche alles Leben auf Erden bis auf ein Paar oder eine Familie verschlang; diese Flut heißt die Sintflut, d. h. die allgemeine, große Flut; erst aus Missverständnis hat man später daraus eine »Sündflut«, d. h. eine zur Strafe der Sünden verhängte Flut, gemacht.
Die Götter warfen nun den ungeheuren Leib des toten Riesen mitten in den leeren Raum und bildeten aus den Bestandteilen desselben die Welt; aus dem Blut alles Gewässer, aus dem Fleisch die Erde, aus den Knochen die Berge, aus den Zähnen Fels und Stein, aus dem Gehirn, das sie in die Luft schleuderten, die Wolken; aus seinem Schädel aber wölbten sie das allumfassende Dach des Himmels. An dessen vier Ecken setzten sie die vier Winde: Austri, Westri, Nordri, Sudri; es waren dies Zwerge (über dessen Entstehung s. unten).
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