Obwohl ihm alle gut zuredeten, weigerte sich der Pfarrer eine ganze Weile, über ein angestelltes Leiterchen auf Notturnos breiten Rücken zu klettern. Endlich überzeugte ihn die offensichtliche Schläfrigkeit des schwarzen Pferdes von seiner Harmlosigkeit. Kaum sass er aber oben, wurde Notturno munter. Erstaunlich flink strebte er der Stadtmitte zu, wo der Zirkus sein Zelt aufgeschlagen hatte. Hätte ihn nicht ein schwerer hölzerner Zirkuswagen gebremst, wäre es ein flotter erster Ritt geworden für den armen Pfarrer. Im Künstlereingang zur Manege standen alle Zirkusartisten aufgereiht zum Spalier, als hätten sie Gregor und Géraldine in eben diesem Moment erwartet. Braut und Bräutigam wurden viele Male geküsst, auf die linke, die rechte und wieder die linke Wange, auf die Hände und den Scheitel. Gleich nach der kürzesten Trauung aller Zeiten hiess man Gregor in eine weisse Hose und ein weites blaues Hemd mit goldenen Sternen schlüpfen und komplimentierte ihn die Mitte der Manege. Ehe er sich’s versah, war er ein wichtiges Mitglied des „Zirkus Louis und Louise“ geworden.
Und schon im kommenden Jahr, versprach Nonno Louis, würde er Zirkusdirektor werden und eine rote Livree tragen!
Gregor fasste nach Géraldines Händen, küsste sie auf den Mund, zählte ganz leise bis dreiundzwanzig ein halb und beschloss, mit dem Denken aufzuhören und sich ab sofort über rein gar nichts mehr zu wundern.
Gregor macht keinen Luftsprung
„Wir haben auf dich gewartet“, sagte Nonno Louis und schloss den Jungen in die Arme. „Nun bist du da und wirst den ‚Zirkus Louis und Louise‘ gross machen!“
Was war Gregor doch glücklich!
Am liebsten hätte er einen Purzelbaum gemacht, einen Salto, den höchsten Luftsprung aller Zeiten. Er tat es nicht. Hätte er es getan, er wäre davongeflogen. Ja, da war er sich ganz sicher. Das Glück hätte ihn hinaufgetragen, hoch hinauf, bis unter die Wolken.
Wie oft hatte er vom Fliegen geträumt. Heute, an diesem kalten Tag mit seinem blassblauen Himmel, hätte er es gekonnt!
Stattdessen fasste er nach Nonno Louis rechter und nach Géraldines linker Hand. Zusammen spazierten sie hinaus aus der Stadt. Aus dem grauen Schneematsch wurden blütenweisse, feierliche Polster. Maika hatte Recht: das Glück kam, wenn man es am wenigsten erwartete. Tausend Ideen für erfolgversprechende Zirkusnummern fielen Gregor vor die Füsse wie reife Früchte. Und die Tiere dazu? Die Artisten? Sie würden schon kommen, die Tiere. Und auch die Artisten.
Gregors erster Zirkusbesuch und Notturnos grosser Auftritt
Am selben Abend sass Gregor zum ersten Mal in seinem Leben auf einer schmalen, harten Bank in einem rotweissen Zirkuszelt. Ein schwacher Geruch nach Sägemehl hing in der Luft. Gänsehaut überzog plötzlich Gregors Arme und er glaubte, die Spannung keine Sekunde länger ertragen zu können.
Noch wusste niemand, dass er nun Zirkusartist war. Ein Artist, der noch nie ein Zirkusprogramm gesehen hatte. Ein lernendes Mitglied der Truppe. Ein Zirkusneuling, der von Programmheftverkäufern auf Stelzen, auf schmalen Bänken zusammengepferchten Zuschauern und fast unerträglich spannenden Darbietungen bis Anhin nur geträumt hatte.
Ein junger Artist zudem, der schon sehr bald Zirkusdirektor werden würde!
Ein kräftiger Tusch von Ettorino, dem Ein-Mann-Orchester, riss ihn aus seinen Gedanken. Ettorino spielte Trompete, Trommel, Mundharmonika und kratzte zwischendurch den Bauch des Kontrabasses. Er war mehr Clown als Virtuose auf seinen Instrumenten, und das Publikum lachte gut gelaunt.
Jetzt schlug er die Trommel. Der Wirbel wurde lauter und immer schneller. Die Luft vibrierte. Hasel und Birke ritten auf dem prächtig herausgeputzten Notturno in die Manege. Dessen halbgeschlossene Augen sprachen allerdings von Müdigkeit und Lustlosigkeit. Er schlurfte bis in die Mitte der Manege, wo ihn Hasel und Birke mit allem beluden, was man für ein gemütliches Picknick braucht. Ein Korb mit leckerem Essen, ein Sonnenschirm, Tücher und Badehosen, ein Buch und ein Ball und sogar ein plärrendes Radio fanden auf Notturnos breitem Rücken Platz. Hasel stieg auf, Birke fasste Notturno am Halfter und versprach ihm viele Karotten und ein Bad im See. Notturno aber gähnte. Der Weg zum See war viel zu weit. Notturnos Kopf sank tiefer und tiefer. Hasel musterte ihn besorgt. Gleich würde er zur Seite kippen. Birke zog verzweifelt am Halfter. Sie drehte das Radio auf und hielt es ihm ans Ohr. Wieder gähnte Notturno, dass die Kiefer knackten. Das Publikum bog sich vor Lachen.
Hasel stieg von Notturnos Rücken herunter und holte Ettorino zu Hilfe. Sie bedeutete ihm, mit seinen Instrumenten viel Lärm zu machen, um Notturno zu wecken. Ettorino wandte sich dem Publikum zu, zwinkerte, grinste verschwörerisch. Oh ja, er wollte Notturno überraschen – und Hasel und Birke dazu. Er holte tief Luft, legte die Mundharmonika an die Lippen. Sanft stieg ein Schlaflied in die Zirkuskuppel. Notturno seufzte behaglich. Er kippte laut schnarchend auf die Seite. Hasel rettete den Picknickkorb in letzter Sekunde.
Die Schwestern drohten Ettorino mit dem Finger. Einen schönen Streich hatte er ihnen gespielt. Ettorino zeigte sich zerknirscht. Gerne wollte alles wieder gut machen. Er half den Schwestern, ein Tandemfahrrad mit Picknickkorb, Sonnenschirm, Badehosen, dem Buch, dem Ball und dem Radio zu beladen. Kaum waren die Schwestern auf dem Weg zum See, rappelte sich Notturno auf und wankte müde aus der Manege.
Gregor klatschte, bis seine Handflächen feuerrot waren.
Nonno Louis und ein müder alter Zirkus
Was dann folgte, konnte Gregors Herz allerdings nicht erfreuen. Eine Ahnung von den Problemen, mit denen er sich würde herumschlagen müssen, wenn er erst Zirkusdirektor wäre, bedrängte ihn.
Ettorino gab ein paar Clownereien zum Besten. Das Publikum lachte lustlos ob seinen Scherzen, denn viele seiner Witze waren altbekannt. Dann war schon Pause. Nonna Louise betrat mit einem Bauchladen das Zelt und ging durch die sich bereits lichtenden Reihen. Ihre dunkelbraunen Kuchen, die mehr nach Holz als nach Gebäck rochen, fanden keinen reissenden Absatz.
Die Nonna jonglierte danach mit Ringen und Tellern, Nonno Louis stieg all die steilen Leitern hinauf bis unter die Zirkuskuppel. Er schwang hin und her, ohne einen Salto zu wagen, ein alter Artist, dessen Karriere zu Ende ging. Ettorino spielte nochmals auf allen seinen Instrumenten und machte einen Handstand auf dem Fahrrad, der endlich etwas munterere Notturno trabte einige Runden, während Hasel und Birke auf seinem Rücken Kunststücke vorführten. Und mit diesem Höhepunkt war das Programm auch schon zu Ende.
Plötzlich in Eile und mit langen Gesichtern verliessen die Zuschauer das Zelt.
So war das also. Der ‚Zirkus Louis und Louise‘ hatte nur noch wenige Artisten, und der Zirkusdirektor hatte seine grossen Träume fast zu Ende geträumt.
Deswegen, dachte Gregor, deswegen also. Er hatte Mitleid mit seinem Grossvater und ja, er war auch enttäuscht.
„Was tue ich hier?“, fragte Gregor und fasste nach Géraldines Hand. Er glaubte zu sehen, dass sie ihn anlächelte, aber es war bereits zu dunkel, als dass er hätte sicher sein können. Sie drückte seine Hand und plötzlich freute er sich doch unbändig auf die grosse Aufgabe, die das Leben für ihn bereithielt. Der alte Zirkusdirektor war müde. Wie gut, dass der junge bald in seine Livree schlüpfen würde.
Louis, Louise und ein Geschenk aus Holz
Gruyères, Januar 1920
Sie standen draussen, als Gregor das Zelt verliess. Sie warteten auf ihn, und plötzlich wusste der Junge wieder, was er hier tat. Wenn sich die letzten grossen Träume seines Grossvaters erfüllen sollten, musste er, Gregor, dem Zirkus wieder auf die Beine helfen.
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