In der Küche war bereits fürs Frühstück gedeckt. Gregor schlitterte die Auffahrt hinunter und öffnete den Briefkasten. Inzwischen war er überzeugt, dass die geheimnisvollen und wunderbaren Fenstersimsgeschenke von seinem Grossvater waren. Vielleicht dachte der Grossvater ja, Gregor sei nun zu alt für Spielzeug und es sei angebrachter, ihm zum Geburtstag zu schreiben.
Einen Brief fand er nicht, aber seine tastenden Hände stiessen auf eine Figur, die er im Dämmerdunkel des Briefkastens beinahe übersehen hätte. Er stiess einen erstaunten Pfiff aus, und sogleich erhob sich der dunkelbraune Bär auf die Hintertatzen und begann zu tanzen. Er hielt inne, als der Pfiff verklang, tanzte aber von neuem, als Gregor eine kurze Melodie pfiff. Gregor steckte den Bären ganz unten in die Hosentasche. So unvorsichtig würde er nie wieder sein, dass er sich von seinen Schätzen trennte, und sei es auch nur für einen Augenblick.
Die Eltern sassen am Tisch, als Gregor auf nassen Pantoffeln hereinschlurfte.
„Wo warst du?“, fragte Frau Schröder.
„Ich habe Geburtstag“, sagte Gregor, „und ich hoffte, jemand habe mir geschrieben.“
„Wer sollte dir schon schreiben?“. Gregor hörte Verachtung aus der Bemerkung seines Vaters heraus.
„Ich hoffte auf eine Geburtstagskarte von Nonno Louis.“
„Und?“, fragte Herr Schröder.
„Nichts“, log Gregor.
„Auf dem seine Briefe warten wir ja alle“, bemerkte Gregors Mutter bissig.
Der Vater räusperte sich, als wolle er einlenken.
„Heute darf man dir zum sechzehnten Geburtstag und damit zum Erreichen eines vernünftigen Alters gratulieren.“
„Ich wollte, er würde mich besuchen“, wünschte sich Gregor.
„Wer?“, fragte seine Mutter, die schon wieder vergessen hatte, worüber sie sich unterhalten hatten.
„Er zieht mit einem Kleinzirkus durchs Land“, murmelte Gregor.
„...und das in seinem Alter“, empörte sich sein Vater.
„Er ist ein schwarzes Schaf. Er passt nicht ins Familienbild!“, sagte seine Mutter scharf. Gregor senkte den Kopf tief über den Teller und schwieg.
„Es ist einfacher, mit dem Zirkus zu ziehen als an einem Ort zu bleiben, den man hasst“, dachte er. Auf seinem Gesicht lag ein Lächeln.
Gregor unter dem Apfelbaum
„Es sieht ganz so aus, als könne ein über alles geliebter, verwöhnter Sohn sein Geburtstagsfest nicht geniessen“, bemerkte Herr Schröder sarkastisch. „Hat er nicht alles, was man sich wünschen kann, ein sicheres Elternhaus, treusorgende Eltern, die Aussicht auf eine gute Ausbildung und einen noch besseren Beruf? Nun ja, vielleicht langweilt er sich manchmal ein bisschen an seinem Schreibtisch, in der Bibliothek, im nach botanischen Grundsätzen angelegten Garten. Vielleicht sieht er manchmal nicht ein, dass er weder Geschwister noch lärmende Spielkameraden braucht, vielleicht weiss er nicht, dass sie ihn nur von Wesentlichem abhalten würden.“
„Es muss nicht gespielt werden“, warf Frau Schröder ein. „Spielen ist Zeitverschwendung. Spielen ist unnötig.“
„Danke, meine Liebe“, sagte Herr Schröder. Er belohnte seine Frau mit dem Anflug eines Lächelns.
„Ein Leben in Sicherheit und Luxus, das konzentriertes Lernen und Arbeiten möglich macht, wiegt alles andere auf“, behauptete Herr Schröder.
Wut begann in Gregor zu brodeln.
„Es wiegt nichts auf, gar nichts“, bemerkte der Junge düster.
„Du vergisst dich, mein Sohn“, empörte sich seine Mutter.
„Ich möchte, dass du den Morgen in der Bibliothek verbringst und darüber nachdenkst, was du gerade gesagt hast“, verlangte sein Vater.
„Was ist mit Träumen, Träumen, wie sie mein Grossvater träumt?“, fragte Gregor mutig.
„Lass das Träumen und denk über Pläne für deine Zukunft nach“, verlangte der Vater. „Die Zeit drängt, du bist eben sechzehn geworden! Warum sagst du uns nicht endlich, für welchen Beruf du dich entscheidest?!“
„Ich bitte darum, unter dem Apfelbaum im Garten nachdenken zu dürfen“, sagte Gregor wohlerzogen.
„Unter dem Apfelbaum, lateinisch ‚Malus‘, nun ja, warum nicht, es ist dein Geburtstag.“
Frau Schröder öffnete den Mund, um zu protestieren, aber ihr Mann schnitt ihr das Wort ab: „Die Idee, sich im Winter unter einen kahlen Apfelbaum zu setzen, ist völlig verrückt, aber wahrscheinlich beeilt er sich mit dem Nachdenken, wenn er ordentlich friert.“
Maika oder alles Schwere ist leicht
Gregor sass im Garten unter dem Apfelbaum, den Rücken an den harten Stamm gelehnt.
Der sonnenblumengelbe Brief wurde feucht, als Gregors Hose sich mit Schmelzwasser vollsog. Das Kästchen hatte er unter den dünnen Pullover gesteckt, um es vor den fallenden Flocken zu schützen.
„Sei nicht traurig, Nonno Louis“, tröstete Gregor in Gedanken seinen Grossvater, den er in der feuerroten Livree des Zirkusdirektors deutlich vor sich sah.
„Wir haben dich allein gelassen, und das war nicht richtig. Jahr für Jahr hätten wir in der ersten Reihe sitzen, dein neues Programm bewundern und applaudieren sollen. Ich hole es nach, Grossvater, ich komme!“ Er schloss die Augen, träumte und lächelte vor sich hin, während Schneeflocken auf seine Wangen fielen und schmolzen.
Den ganzen Tag sass Gregor im Garten, ohne dass jemand nach ihm sah. Obwohl er inzwischen steif vor Kälte war, nickte er in der frühen Dämmerung ein, denn traurig sein macht müde. Er erwachte erst wieder, als jemand eine schwere Last den Kiesweg hinaufzog.
Maika, die stärkste Frau der Welt, überbrachte ihm ein weiteres Geburtstagsgeschenk seines Grossvaters, fein eingewickelt in rotes Papier mit goldenen Streifen. Der hölzerne Zirkuswagen war ein wunderbar passendes Geschenk für einen Jungen von sechzehn Jahren!
„Puh!“, rief Maika und wischte sich den Schweiss von der Stirn. „Auch für die stärkste Frau der Welt ist ein Zirkuswagen kein Pappenstiel.“
Sie setzte sich neben Gregor unter den Apfelbaum. Ihre dampfende Wärme erinnerte Gregor daran, dass er erbärmlich fror.
„Dein Grossvater“, erklärte Maika ohne Umschweife, „ist nun zu alt, um für einen Zirkus verantwortlich zu sein. Er mag nicht mehr in Zirkuskuppeln hängen und Tieren Manieren und Kunststücke beizubringen. Er mag nicht mehr allein dafür besorgt sein, dass eine ganze Truppe zu Essen hat. Kurz, Direktor Louis vom ‚Zirkus Louis und Louise‘ braucht einen Nachfolger!“
Gregor konnte kaum glauben, was er hörte. Nun zitterten seine Knie nicht mehr vor Kälte, sondern vor Glück und Erwartung. Er wollte aufstehen, sich bedanken, Maika umarmen – als eine Sternschnuppe aus dem pechschwarzen Himmel fiel. Maika folgte seinem Blick.
„Schnell, wünsch dir etwas!“, befahl sie leise, und Gregor sagte ohne Zögern: „Ja, ich will es. Ich wünsche es mir mehr als alles andere auf Erden. Ich nehme dein Geschenk an, Nonno Louis. Wir ziehen zusammen in der Welt herum, um die Menschen glücklich zu machen. Für einen Nachmittag oder Abend werden sich die Leute so leicht fühlen, als könnten sie fliegen! Genau wie ich! Ich bin ja so glücklich, dass ich mit Freunden durch die Welt ziehen darf, mit den allerbesten Freunden, die es gibt.“
„Einen guten Freund hast du gerade kennen gelernt“, vertraute Maika ihm treuherzig an. „Oder besser gesagt: eine gute Freundin. Die stärkste Frau der Welt bleibt bei dir.“
Gregor legte seine kalte Hand in ihre warme und ein Schauer überlief ihn.
„Ja, aber“, grübelte er besorgt, du kannst doch keinen Zirkuswagen ziehen! Wir brauchen ein Pferd!“
„Das Pferd wird schon kommen“, sagte Maika.
„Wir brauchen Tiere, die wir dressieren können“, sorgte sich Gregor, aber Maika sagte nur, die Tiere würden schon kommen.
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