Gregor versuchte, es dem kleinen Turner gleich zu tun. Frühmorgens übte er in seinem Zimmer Purzelbäume auf dem Teppich und Saltos von Bett und Schrank. Er benutzte die Matratze als Trampolin. Irgendwann würde er wirklich fliegen zu können, da war er sich ganz sicher. In seinen Träumen sah er sich hoch oben unter einer Zirkuskuppel. Er trug eine weisse Hose und ein blaues Hemd mit goldenen Sternen, und die Zuschauer legten die Köpfe in den Nacken und hielten den Atem an.
Als Gregor nach einem Doppelsalto rückwärts, auf den er sehr stolz war, die Matratze verfehlte, rief das Gepolter eines fallenden Stuhls die Eltern in sein Zimmer.
Stumm sassen sich die drei an diesem eiskalten Morgen seines neunten Geburtstags beim Frühstück gegenüber.
„Wir wissen, dass du inzwischen ein sehr geübter Leser bist“, sagte Herr Schröder, und seine Stimme schwankte zwischen Vorwurf und Stolz.
„Du glaubst, dass du Geheimnisse vor uns hast, aber …“ Er liess den Satz unvollendet.
„Geheimnisse sind gut und schön, aber wir möchten, dass du sinnvolle Träume träumst“, ergänzte Frau Schröder. Sie legte ein Geschenk neben Gregors Teller. Es war in blauweisses Papier eingewickelt und Gregor dachte, wie gut es doch sei, dass er den Turner ganz hinten im Kleiderschrank versteckt hatte, bevor er mit seinen Übungen begann. Er bedankte sich für das dicke Buch über die Gesetze der Schwerkraft und hoffte, dass man ihn nie fragen würde, was drinstand.
Da war sie wieder, die Wut, die ihn mit den Zähnen knirschen liess. Eine Wut auf nichts und auf alles. Eine Wut wie ein brodelnder Vulkan, der ausbrechen wollte, aber nicht ausbrechen konnte.
Gruyères, 4. November 1912, spätabends
Maika kaute auf ihrer Unterlippe herum.
Nonno Louis wartete.
Immer dauerte es eine ganze Weile, bis Maika herausrückte mit den Dingen, die sie umtrieben und bedrückten.
„Denkst du nicht, dass es höchste Zeit wäre, Gregor das Kästchen zu bringen?“
Nonno Louis schaute sie lange an, schwieg aber. Bestimmt hatte Maika noch mehr auf dem Herzen, und je weniger er fragte, umso eher würde er es erfahren.
„Heute war er wieder wütend“, berichtete Maika. „Du kannst dir gar nicht vorstellen, Nonno Louis, wie wütend er war!“
„Hatte er denn einen Grund, wütend zu sein?“, wollte Nonno Louis wissen.
Maika verdrehte die Augen. Warum fragte Louis noch, wenn er eh immer alles wusste, bevor man es auch nur gedacht hatte?!
„Er war wütend, weil er Geburtstag hatte“, brachte Maika schliesslich heraus.
„So?“, wunderte sich der Nonno. „Na, wenn das mal nicht ein sehr seltener Grund ist!“
„Wenn du das dicke Buch gesehen hättest mit den langen Kapiteln und den schwierigen Wörtern, das Gregor lesen muss! Wenn Du die Gesichter von seinem Papa und seiner Mama gesehen hättest! Wenn du … , ach, Nonno Louis, denkst du nicht auch, dass es Zeit wäre für das Kästchen, allerhöchste Zeit?“
„Gregors Wut kann ich mir vorstellen.“ Der Nonno nickte.
„Er war so wütend wie ein Drache, der eine Prinzessin verschlucken wollte, aber einen Felsbrocken erwischte.“
„Mindestens“, rief Maika erleichtert, „mindestens.“
„Er ist ein Vulkan, der brodelt und kocht, aber nie ausbricht“, vermutete Nonno Louis.
„Genau, genau!“
„Dann, denke ich“, sagte Nonno Louis, „ist es Zeit für das Kästchen.“
Er holte ein hölzernes Kästchen aus seinem Wohnwagen und drückte es Maika in die Hand.
„Die Anleitung, die Anleitung“, sagte Maika ungeduldig. „Du musste eine Anleitung schreiben, Nonno Louis.“
„Aber Maika“, schalt der Nonno gutmütig. „Die ist doch längst geschrieben.“
Maika schob den Deckel etwas zur Seite und spähte in das Kästchen hinein. Richtig, da war sie, die Anleitung, aufgeschrieben in Nonno Louis‘ steiler Schrift. Das Papier steckte zwischen den hölzernen Würfeln. Alles war, wie es sein sollte, und Maika machte sich auf den Weg.
Murten, 5. November 1912, frühmorgens
Zum ersten Mal, seit er sich erinnern konnte, war Gregor nicht rundum froh, dass sein Geburtstag vorbei und überstanden war. Er fühlte sich hin und her gerissen zwischen einer vagen Freude und der Wut, deren Wellen ihn wie ein dunkles Meer umspülten. Er war ihnen ausgeliefert.
Er wollte nicht an seinen Geburtstag denken. Nein, auf keinen Fall. Noch hatte er kein Versteck gefunden für das Buch. Er wollte es so gut verstecken, dass er es selbst nicht wiederfand. Er wollte nicht an die Gespräche von vorgestern denken. Er wollte nicht daran denken, dass seine Eltern wieder einmal vergessen hatten, einen Kuchen mit Kerzen zu besorgen.
Auf der anderen Seite wollte er an seinen Geburtstag denken. Unbedingt! Immer wieder malte er sich den Moment aus, als er das Geschenk auf dem Sims entdeckt hatte. Er hatte die Hand danach ausgestreckt, die kühle, schneeverkrustete Schlaufe berührt. Er hatte den Turner ausgewickelt. Sein Herz hatte geklopft bis zum Hals. Er hatte ein Geschenk bekommen!
Gregor wollte, dass es wieder passierte. Aber er hatte erst in einem Jahr wieder Geburtstag! Gewiss, er hatte den Turner. Vielleicht bekam er nächstes Jahr einen Jongleur mit Ringen und Tellern. Einen Dompteur mit einem Tiger oder auch zweien. Aber war es nicht schrecklich, dass ein Jahr so unendlich lang war? Bestimmt bekam er auch wieder ein Buch, das er nicht lesen wollte. War es nicht schrecklich, dass ein Jahr so kurz war?
Gregor bemerkte plötzlich, wie schwarz der Morgen war. Winternachtschwarz. So schwarz wie die Wut, die in ihm brodelte. Er hätte schreien, gegen die Wand treten mögen. Er hätte gerne etwas kaputt gemacht, irgendetwas.
Ihm war heiss vor Wut und Verzweiflung, aber er musste leise sein, ganz leise. Seine Eltern durften niemals erfahren, dass er wütend war. Vermutlich hätten sie ihn in der Bibliothek mit all den schwierigen Büchern eingesperrt. Er hätte lesen müssen, lesen, lesen, lesen, bis er sich beruhigte.
Gregor kletterte aus dem Bett und öffnete das Fenster. Die kalte Luft tat den heissen Wangen gut. Als er sich auf den Sims stützte, berührte seine linke Hand einen warmen Fleck. Lange konnte das hölzerne Kästchen da noch nicht gelegen haben. Gregor spähte in den nachtschwarzen Garten, auf die stille Strasse hinaus. Im Licht einer Strassenlaterne fiel ein dichter Vorhang aus Schnee. Es war niemand zu sehen. Gregor hob das Kästchen hoch und drückte es an sich.
Der Deckel liess sich leicht zur Seite schieben. Ein tröstlicher Geruch nach frischem Holz entströmte dem Kästchen. Gregor strich den Zettel glatt, der zwischen Würfeln lag. „Zähl, Gregor, zähl!“, stand da geschrieben. Nichts weiter, nur „Zähl, Gregor, zähl!“
Gregor legte die hölzernen Würfel, von denen keiner gleich war wie der andere, nebeneinander auf den Fenstersims. Und er zählte:
„Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun, zehn, elf, zwölf, dreizehn, vierzehn, fünfzehn, sechzehn, siebzehn, achtzehn, neunzehn, zwanzig, einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig.“
Er stutzte. Es gab noch einen Würfel. Allerdings sah er so aus, als sei er in der Mitte durchgeschnitten worden. Oder hatte das Holz einfach nicht mehr gereicht?
„Dreiundzwanzig ein halb“, sagte Gregor laut.
In ihm drin verebbte die Wut. Das Brodeln und Kochen wurde weniger, dann wurde er ruhig, ganz ruhig.
„Dreiundzwanzig ein halb“, wiederholte der Junge. Plötzlich war er unendlich müde. Er kroch zurück ins Bett und legte das Kästchen unters Kissen. Als es endlich zögerlich novemberhell wurde, schlief er noch immer tief und fest.
Gregor liest eine Botschaft
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