Claudia Gürtler - Zirkus Zauberhaft

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Werde ich geliebt? Das ist DIE Frage in jedem Kinderleben.
Werde ich aufgefangen und gehalten? Wer hilft mir, stark und mutig zu werden?
Der sechsjährige Gregor träumt vom Zirkus und eckt damit bei seinen Eltern gewaltig an. Er erfährt, sein Grossvater als Zirkusdirektor von Dorf zu Dorf zieht. Nonno Louis ist das schwarze Schaf der Familie. Gregor soll keinesfalls in seine Fussstapfen treten.
Aber als Gregor alt genug wird, um mit dem Zirkus zu ziehen, holt ihn Maika, die stärkste Frau der Welt, zu Hause ab.
Plötzlich geht alles schnell in Gregors Leben: Er lernt Géraldine kennen und wird Vater von sechs Söhnen. Arthur, Bela, Maxim, Sereno und Vitus sind echte Zirkuskinder und furchtlose, talentierte Artisten. Ursus aber, der Jüngste, ist ängstlich und schwerfällig.
Es fällt Gregor schwer, auch ihn zu lieben. Nun ist es Ursus, der gewaltig aneckt – aber das wird Gregor erst bewusst, als es fast schon zu spät ist für eine glückliche Kindheit für den Jungen.
Aber Ursus wächst über sich hinaus und wird nicht nur der jüngste Zirkusdirektor aller Zeiten; nein, er zähmt auch einen Bären, den wilden Aljoscha, und er entdeckt dabei sein grösstes Talent: die Liebe!

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Murten, Weihnachten 1917

Der prächtige Weihnachtsbaum mit der rotgoldenen Spitze reichte bis knapp unter die Decke. Stille füllte das Zimmer.

Diese Stille sollte der vierzehnjährige Gregor nie wieder vergessen. Sie ging dem hässlichen Geräusch voraus, mit dem sein Vater das grosse bunte Zirkusbild, an dem er Stunde um Stunde gemalt hatte, mitten durchriss. Er riss auch gleich Gregors Freude an Weihnachten entzwei, teilte sie in immer kleinere Schnipsel. Am Ende waren sie so winzig und eisig wie die nadelspitzen Schneeflocken im Dunkel der Nacht vor den Fensterscheiben.

„Wir möchten dich heute nicht mehr sehen“, sagte Gregors Mutter mit einer Stimme, die genauso eisig und nadelscharf war wie die Schneeflocken, „du kannst deine Geschenke morgen auspacken.“

Gregor stieg leise die Treppe hinauf und schloss die Tür seines Zimmers. Er zählte langsam und nun schon geübt bis dreiundzwanzig ein halb, bevor er das Fenster öffnete und den kalten Schnee auf die heissen Wangen fallen liess. „Ich weiss nicht, was an einem gemalten Zirkus so schrecklich ist!“, sagte er in die Dunkelheit hinaus.

Falls diese Bemerkung eine Frage war, erhielt er darauf keine Antwort, aber er entdeckte, als er das Fenster schon schliessen wollte, eine Dose auf dem Sims. Sie war mit einer roten Schlaufe dekoriert, die ihrerseits mit einem gefrorenen Saum aus Schneekristallen verziert war.

Nanu, er hatte doch nicht Geburtstag. Vor knapp zwei Monaten, an seinem vierzehnten Geburtstag, hatte er bereits ein Geschenk erhalten, nach dem Turner, dem Trompeter, dem kleinen rotweissen Zirkuszelt, der doppelt geknoteten Schlange und dem winzigen schwarzen Zauberzylinder war dieses aus der Reihe tanzende Geschenk das sechste, das siebente, wenn man das Kästchen mitzählte.

Er zögerte das Öffnen der Dose noch etwas hinaus. Dabei fiel sein Blick auf eine angeheftete Karte.

„Es ist einfacher, durchs Leben zu hüpfen, als durchs Leben zu kriechen“, las Gregor. Die im Schnee zerfliessende Schrift kam ihm vage bekannt vor, aber er hielt sich nicht länger damit auf. Er öffnete die Dose, die ein winziges Trampolin und einen Trampolinspringer im Clownskostüm enthielt. Der Springer war aus Hartgummi, und wenn man ihn auf das Trampolin fallen liess, hüpfte er hoch und machte einen Salto.

Gregor verbarg das Trampolin bei den übrigen Geschenken ganz hinten in seinem Schrank. Die Karte las er wieder und wieder. „Es ist einfacher, durchs Leben zu hüpfen, als durchs Leben zu kriechen“. Den Springer steckte er als Glücksbringer in die Hosentasche. Er behielt ihn fest in der Hand, als er die Treppe hinunterging, um seine Eltern zu fragen, was an einem gemalten Zirkus Schlimmes dran sei.

Er hörte ihre aufgebrachten Stimmen durch die geschlossene Tür. Auf halbem Weg blieb er stehen und horchte. Er drehte den Trampolinspringer um und um.

„Zweiundzwanzig, dreiundzwanzig, dreiundzwanzig ein halb“, murmelte er vor sich hin.

Dennoch verliess ihn der Mut und er ging die Treppe wieder hinauf. Er vermied die eine knarrende Stufe und schloss ganz leise die Tür.

Maika und ein Junge als Geschenk

Gruyères, Sylvester 1917/18

Viel Zeit war vergangen, und immer Anfang November hatte Gregor zum Geburtstag ein Geschenk erhalten. Nun war er schon fünfzehn, und auf dem zerknitterten Zettel, der um das linke Vorderbein eines schwarzen Pferchens gewickelt war stand „Wer den Mut hat zu galoppieren muss nicht auf der Stelle treten.“

Gregor hatte sich nie gefragt, wer die Geschenke brachte und sie im Schneetreiben auf den Fenstersims legte. So lange er zurückdenken konnte, hatte es an seinem Geburtstag geschneit und die kleinen Zirkusgaben trugen eine hübsche, kalte Verzierung aus Schneekristallen.

„Er hat sich nie gefragt“, sagte Maika. „Er hat sich nie gefragt, wer es ist, der ihm Geschenke bringt.“ Sie lächelte und dachte voller Zärtlichkeit an den Jungen, dem sie Jahr für Jahr ein paar Glücksmomente bescherte.

„Er hat sich nie gefragt“, bestätigte Nonno Louis, „und das ist gut so, meinst du nicht?“

Maika wiegte nachdenklich den Kopf.

„Lange war es gut so“, sagte sie, „aber ich frage mich, ob es auch heute noch gut ist. Nun ist er schon fünfzehn! Sollte er nicht langsam erfahren, dass ….“

„Nächstes Jahr“, sagte Louis schnell. „Nächstes Jahr werde ich mich alt genug fühlen, um mir einen Nachfolger zu wünschen. Und Gregor wird im nächsten Jahr das genau richtige Alter haben. Mit sechzehn ist man alt genug.“

„Alt genug, um …“, begann Maika, aber Louis legte ihr rasch und bestimmt die Hand auf den Mund.

„Alles passt zusammen wie eine Nussschalenhälfte auf die andere.“

Er zog eine Walnuss aus der Tasche und rüttelte an den beiden Hälften, bis sie sich voneinander lösten. Maika sah lächelnd zu. So war er, der Nonno, sanft, aber bestimmt, und was immer er wollte, erreichte er.

Sachte bewegte er nun auch die frische Nuss hin und her, auf und ab, bis sie sich aus der Schale löste. Er brach sie in zwei Hälften, entfernte die hölzerne Trennhaut und reichte Maika die eine Hälfte, während er sich die andere in die Backe schob.

„Nächstes Jahr“, versprach er kauend, „nächstes Jahr ganz bestimmt.“

Er warf Maika einen verschwörerischen Blick zu und sie freute sich still. Wie gut, dass sie sich einig waren. Nächstes Jahr also, nächstes Jahr ganz bestimmt.

Gregor spielt

Obwohl er dafür nun wirklich schon zu gross war, spielte Gregor, wann immer er alleine war, spielte mit der Versunkenheit eines Kindes, das man nie hatte spielen lassen.

Zum fünfzehnten Geburtstag hatte er ein Pferd mit zwei Reiterinnen bekommen. Das Pferd war nachtschwarz und die Reiterinnen sassen dicht hintereinander auf seinem breiten Rücken.

Gregor holte alle geschenkten Figuren hervor, dazu seine Bauklötze, die mit „Buche“, „Eiche“, „Esche“ und „Nussbaum“ angeschrieben waren. Wenn Kinder schon spielten, mussten die Spiele lehrreich sein. Allerdings hätten die Eltern wenig Freude an den Spielen ihres fünfzehnjährigen Sohnes gehabt, hätten sie davon gewusst. Gregor grinste vor sich hin. Es machte Spass, ihnen eins auszuwischen.

Der Junge baute seinen Zirkus auf. Der Trompeter blies einen Marsch, als Gregor einen Knopf an seinem Hinterkopf drückte. Genau so, dachte Gregor, beginnt im Zirkus jeweils das Abendprogramm!

„Es ist einfacher, durchs Leben zu hüpfen, als durchs Leben zu kriechen“, murmelte er vor sich hin. „Es ist einfacher, durchs Leben zu fliegen, als am Boden zu kleben; es ist einfacher, zu singen und Musik zu machen, als traurig zu sein. – Es ist einfacher laut zu werden, als seinen Kummer für sich zu behalten!»

Gregor seufzte. War es das? War es einfach, zu sagen, was man dachte, wenn ein schönes Zirkusbild zerrissen wurde?

In Gedanken versunken baute Gregor das rotweisse Zirkuszelt auf, legte die zweifach geknotete Schlange als Wächter vor den Eingang, damit das Publikum nicht zu früh die Ränge stürmte und nahm endlich den schwarzen Zauberzylinder in die Hand. Wenn man mit dem Finger rund um die Krempe strich, lugten zwei weisse Kaninchen daraus hervor. „Es ist einfacher, Kaninchen aus einem Hut zu zaubern als daran zu glauben, dass das Leben schön sein kann wie ein Zirkus!“, seufzte Gregor. Und wieder stellte er die bange Frage: „Ist es das?“

„Es ist einfacher, sich mit Lügen zufrieden zu geben, als Antworten zu fordern“, sagte er laut und stand auf.

„Ist es das? Ist es das? Ist es das?“, fragte er und gab sich selbst die Antwort: „Ja, das ist es! Antworten zu verlangen ist schwierig, sehr schwierig.“

Aber der Tag war gekommen. Fragen mussten gestellt werden. Antworten mussten her. Heute. Jetzt!

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