Wie vor langer Zeit steckte er den Trampolinspringer als Glücksbringer in die Tasche, auch das Pferd mit den Reiterinnen und die geknotete Riesenschlange. Ohne zu zögern ging er dieses Mal die ganze Treppe hinunter, klopfte höflich an die Stubentür und wartete auf das energische „Herein“ seines Vaters.
Gregor macht eine Entdeckung
Murten, 4. November 1918
Gregor sah erst seinem Vater, dann seiner Mutter fest in die Augen und fragte, was an einem gemalten Zirkus so schlimm sei. Ein Weihnachtsgeschenk sei das Bild gewesen, ein Geschenk, mit dem er sich viel Mühe gegeben habe. Ein Weihnachtsgeschenk, mit dem er seine Eltern habe erfreuen wollen.
„Uns macht ein Zirkus keine Freude“, sagte Frau Schröder spitz.
„Warum nicht?“, fragte Gregor.
Er wollte nun keineswegs aufgeben, bevor er Antworten erhalten hatte. Und sie kamen schneller als erwartet, die Antworten.
„Seinetwegen“, sagte sein Vater.
„Seinetwegen“, bestätigte die Mutter. „Dein Nonno Louis passt nicht ins Familienbild. Wir wollen keinen Zirkusdirektor in der Familie. Was sollen die Leute denken!“
„Nun ja“, gab Herr Schröder zögernd zu, „er ist mein Vater. Er ist dein Grossvater.“
„Was nicht bedeutet, dass er tun und lassen kann, was er will“, rief Frau Schröder. Ihre aufgebrachte Stimme schnitt in die Stille des Morgens.
„Wir könnten ihn einladen“, schlug Gregor vor.
„Auf keinen Fall!“, rief sein Vater sofort.
„Das hätte gerade noch gefehlt“, ergänzte seine Mutter.
„Wir sollten eine Vorstellung besuchen!“
Gregor strahlte.
„Ich wünsche mir zu Weihnachten, dass wir eine Zirkusvorstellung besuchen.“
„Geh auf dein Zimmer“, verlangte seine Mutter, „wir wollen dich heute nicht mehr sehen.“
„Na“, meinte Gregor, „so weit waren wir doch schon mal.“ Er hüpfte leichtfüssig die Treppe hoch.
„Ich gehe in den Zirkus, das lasse ich mir nicht nehmen!“, rief er, bevor er die Tür zuknallte. Herr und Frau Schröder sahen sich an. Es war das erste Mal, dass Gregor eine Tür zuknallte.
Gregors Bitten, den Grossvater einzuladen oder zu besuchen, verhallten ungehört und unerfüllt, aber der Junge erwähnte ihn, den er nun Nonno Louis nannte, wieder und wieder. Trotzig und so oft wie möglich erwähnte er ihn, und die empörten Gesichter der Eltern amüsierten ihn inzwischen mehr, als dass er sich vor ihnen fürchtete.
Er hatte einen Grossvater, der Zirkusdirektor war! Er war ein sehr trauriger Junge, aber ohne Zweifel auch ein sehr glücklicher.
Er träumte nun immer öfter vom Zirkus. Zuschauer war er, Eisverkäufer, Jongleur, Dompteur, Direktor oder Turner am Trapez. Ja, das vor allem! Gregor sah sich durch die Luft wirbeln, stolz, kühn, vom Publikum beklatscht und bewundert.
Wie einfach war es doch, vom Fliegen zu träumen, wenn der Tag kühl und der Himmel blassblau war!
„Herrrrrrrreinspaziert, meine Damen und Herren“, rief Gregor und wedelte im Traum mit den Glacéhandschuhen.
Wenn er morgens erwachte, fühlte er sich federleicht, so leicht wie ein Trapezkünstler, der durch die Zirkuskuppel fliegt.
„Ihr, die ihr auf euren Sesseln klebt“, jauchzte Gregor, noch ganz erfüllt vom Traumglück, „schaut her, ich kann es, ich kann fliegen!“
An manchen Abenden aber fühlte er sich schwer wie ein alter Tanzbär, der vom immer gleichen Programm genug hat und schwer am Leben und an sich selber trägt.
Früher konnte Ursus fliegen
1938 und später
Als er ganz klein war, ja, da konnte er es! Als Ursus drei, vier und fünf Jahre alt war, konnte er fliegen. Ganz leicht ging das. An kühlen Tagen und bei blassblauem Himmel war es besonders einfach.
War es Traum? War es Wirklichkeit? Es war beides, ganz bestimmt war es beides, aber was kümmerte es ihn!
Er konnte fliegen! Das allein zählte. Ein unbeschreibliches Glücksgefühl hob den Jungen hoch und trug ihn hinauf bis fast zu den Wolken. Und wenn er wieder Erde oder Gras unter den blossen Füssen spürte, hüpfte er leichtfüssig durch den Tag und strahlte übers ganze Gesicht.
So lange er zurückdenken konnte, hatte Ursus fliegen können.
An seinem sechsten Geburtstag aber konnte er es plötzlich nicht mehr. Schwer drückte ihn das eigene Gewicht zu Boden. Er starrte auf seine Fussabdrücke und erschrak. Sie waren tiefer geworden. So war das also: Er wurde trauriger und schwerer, und seine Fussabdrücke wurden tiefer mit jedem Tag.
Gregor und der Oktoberschnee
Im Jahr, in dem Gregor sechzehn werden sollte, schneite es nicht erst Anfang November, sondern schon Mitte Oktober. Gregor rutschte in Pantoffeln die Auffahrt hinunter, um die Post zu holen, die Post für seine Eltern. Er hatte noch nie Post bekommen, aber er konnte nicht aufhören, darauf zu hoffen und zu warten. Und endlich war es so weit: Gregor zog einen sonnenblumenfarbenen Umschlag aus dem Kasten, auf dem sein Name stand. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals, denn er kannte die Schrift.
„Es ist einfacher, durchs Leben zu hüpfen als durchs Leben zu kriechen“, flüsterte er, während er den Umschlag öffnete, der nur an einer Stelle nachlässig zugeklebt war.
„Es ist einfacher, mit dem Zirkus zu ziehen als an einem Ort zu bleiben, den man hasst“, las Gregor in der steilen Schrift seines Grossvaters.
„Ich weiss es, Nonno Louis“, sagte Gregor leise, „ja, ich weiss es, selbst im Schneetreiben ist es einfacher, mit dem Zirkus zu ziehen, als im viel zu warmen Zimmer zu sitzen und darauf zu warten, dass die Zeit vergeht.“
Er steckte den Umschlag in die Hosentasche, ohne ihn zu falten.
Am selben Abend machte Frau Schröder Ordnung im Kleiderschrank ihres Sohnes. Dabei stiess sie auf Gregors sorgsam gehütete Schätze, den Turner, den Trompeter, das rotweisse Zirkuszelt, die doppelt geknotete Riesenschlange, den Zauberzylinder, den Trampolinspringer und das nachtschwarze Pferd. Sie fegte die Geschenke von Nonno Louis in ihre Schürze. Gregor sah ihr voller Verzweiflung zu. Er würde die Kostbarkeiten wohl nie wiedersehen, aber wenigstens steckte das Kästchen mit den dreiundzwanzig und einem halben Würfel sicher unter seiner Matratze.
Der Junge ging früh zu Bett. Den sonnenblumengelben Umschlag mit der Botschaft seines Grossvaters legte er unters Kopfkissen. Er schlief sofort ein und träumte:
Im Zimmer seiner Eltern kratzten die Zirkusfiguren an der Tür des Kleiderschranks. Sie klopften und forderten ihre Freiheit. Niemand hörte sie, bis der Trompeter plötzlich einen Marsch blies, die Schlange laut und drohend zischte, die Kaninchen den Zylinder verliessen und wilde Haken schlugen. Auch der Turner schlug Purzelbäume und der Trampolinspringer sprang von Kleiderbügel zu Kleiderbügel, während das Pferd durchdringend wieherte. Als Herr Schröder die Schranktür öffnete, marschieren sie hinaus, hinaus aus dem Zimmer und die Treppe hinunter. Wie ein geheimnisvoller Spuk verschwanden sie in der Nacht. Gregor erwachte.
Gab es einen Grund, glücklich zu sein? Er hätte keinen nennen können, aber tief in seinem Inneren fühlte er sich glücklich. Und er war sich fast sicher, dass er den Turner, den Trompeter, das Zelt, die Schlange, die Kaninchen, den Trampolinspringer und das Pferd irgendwann wiedersehen würde!
Ein Geschenk zum sechzehnten Geburtstag
Es schneite in grossen Flocken. Gregor sprang aus dem Bett. Er war sechzehn, endlich sechzehn! Er öffnete das Fenster, aber da lag kein Geschenk auf dem Fenstersims. Gregor spähte in den dunklen Garten hinunter. War das Geschenk hinuntergefallen?
Weiss und ohne Spuren bedeckte der Schnee den Rasen. Gregors Pyjama bekam einen nassen Fleck. Er schlüpfte in die Kleider, zog den sonnenblumengelben Brief unter dem Kopfkissen hervor und steckte ihn zurück in die Hosentasche. Wenn er die Hand auf die Tasche legte, knisterte das Papier leise. Wenigstens der Brief und das Kästchen waren ihm geblieben. Das war nicht viel, aber mehr als nichts.
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