„Euer Bruder braucht Eure Liebe jetzt mehr als je zuvor.“
„Mein Bruder schwingt sich einhändig in den Sattel seines Cerquus, mein Bruder reitet mit mir um die Wette durch die Wälder, mein Bruder taucht mit mir zum Grunde des Sees und klettert bis in den Gipfel der kopfstehenden Luftwurzler, mein Bruder kämpft für mich! Ohne seine Beine habe ich keinen Bruder mehr! Ohne seine Beine stirbt Perscpiù!“ Der Schall ihrer entsetzlichen Angst hallte im Raume nach.
„Vielleicht“, rauschte die Blätterstimme ruhig. „Ich habe schon Männer gesehen, die stärker waren als Euer Bruder, und die an ihrem Schicksal zerbrochen sind. Die auf dem gefährlich schmalen Grat zwischen Zetern und Hadern, zwischen Angst und Wut, zwischen Verschlossenheit und Selbstmitleid wankten, unfähig ihr Los anzunehmen und die rettende Abzweigung zu Lebensmut und Lebensfreude einzuschlagen.“ Die raschelnde Stimme verstummte. Dann wehte sie erneut durch den Raum.
„Aber vielleicht findet er auch den Weg zu einem neuen Leben. An ihm allein liegt es, sich zu entscheiden.“ Und leise fügte sie hinzu: „Nur je länger er dafür braucht, desto geringer werden die Aussichten, dass es ihm gelingt. Und sind erst einmal sechs Mondumläufen verstrichen, gibt es kaum noch Hoffnung darauf.“
Tränen schnürten Anima die Kehle zu. Tränen, die nie flossen. Seit dem Tod ihres Vaters nicht mehr. Perscpiù könnte sterben... sterben wie ihr Vater... sie allein lassen... Wer würde sie, Anima, dann beschützen? Wer würde den Baumberg und seine Bewohner vor den Truscani beschützen? Wer könnte Udiom davon abhalten, sie alle zu töten, wie er ihren Vater getötet hatte?
Animas Verzweiflung schlug um in Wut.
„Nein! Perscpiù muss leben! Es muss jemanden geben, der ihn heilen kann! Wir...“
„Es gibt jemanden, der helfen kann“, meldete sich unerwartet der dürre Alte der Heiler zu Wort. Seine Stimme hörte sich brüchig an.
Anima starrte auf die schmalen Lippen unter der langen knochigen Nase.
„Er ist ein außergewöhnlicher Medopifexius. Leider ist er vor einigen Jahren verschwunden. Das muss etwa zu der Zeit gewesen sein, als Euer Vater...“
„Der GroßMedopifexius? Sie sprechen vom GroßMedopifexius?“, unterbrach ihn Puscris. „Er war unbestritten ein Meister unseres Berufs und ein würdiger Vorsitzender unseres Bundes, aber auch er konnte keine Wunder vollbringen. Daran ist nun mal nichts zu ändern. Und wie Sie schon sagten, Medopifexius Sienpas, seit Jahren haben wir kein Lebenszeichen bekommen von ihm. Eher müsste man jederzeit mit der Nachricht rechnen, dass der GroßMedopifexius irgendwo am Ende der Welt gestorben ist.“
Fest entschlossen
Anima öffnete leicht die Augen. Es war dunkel. Wie lange hatte sie wohl geschlafen? Sie erinnerte sich, bis weit in die Nacht hinein wach gelegen und gegrübelt zu haben. Ihr Kopf war noch immer schwer davon. Plötzlich hörte sie Lärm im Palasthof. Durch ihr Fenster flackerte Licht. Sie rieb sich die Augen und ging hin. Es sah so aus, als stünden Hunderte von Baumbergern mit Fackeln auf dem Hof. Anima kletterte auf den breiten Sims ihres Fensters und drückte die Nase gegen die durchscheinende Haut, die als Wetterschutz über das Gitter gespannt war. Wolken verschleierten die Monde. Doch im Schein der Fackeln blickte Anima auf ein Meer von mohnroten, fuchsroten, ebereschenroten, erdbeerroten, blutroten und braunroten Lichtspiegelungen.
Sie hatten den Roten Drachen gefangen!
Schwer vorstellbar, dass es nur wenige Tage her war, dass sie dieses Farbenspiel zum ersten Mal erlebt hatte. Doch jetzt wirkten die Farben fahl. Sie hatten ihre Leuchtkraft verloren. Die Flügel des Tieres hingen schlaff auf den Boden. Reglos lag es da. Der massige Körper, der vor kurzem noch kraftvoll und mächtig den Himmel beherrschte, wirkte ausgezehrt und abgemagert.
Die Hofbrigade drängte die gaffende Schar von Baumbergern zurück und bildete einen Ring um den toten Drachen. Die Späher in ihren Aussichtskörben hatten sich über die Seile in den Kronen der Königsbäume nah an das Geschehen herangebracht und beäugten es neugierig. Soeben trat die Königin in Begleitung ihres HofMedopifexius und den anderen Heilern auf die Verkündigungsterrasse.
Und mit einem Mal wusste Anima, was zu tun war.
Eilig schlüpfte sie in das blaubeerfarbene Kleid, das feinsäuberlich ausgebreitet über dem Hocker lag. Sie zog ihre Reisetasche unter dem Bett hervor, stopfte ein moosgrünes Kleid für kalte Tage, ein Unterkleid, ein paar Beinkleider und ein paar Füßlinge mit fester Borkensohle hinein. Dann griff sie nach dem Tuch neben der Waschschüssel und wickelte darin die zwei Brote mit Schwarzbeeraufstrich ein, die noch unangetastet auf dem Tisch bei ihrem Bett lagen, und legte sie mit einem gefüllten Wasserschlauch zu den Kleidern in die Tasche. Schließlich warf sie noch die Schatulle hinein, in der sie ihre Goldmünzen aufbewahrte. Ein paar von den Goldstücken steckte sie in die lederne Gürteltasche und band sie sich um die Taille. Das Wichtigste trägt man immer am Körper, hatte ihr Vater ihr beigebracht.
Dann schlich sie sich in das Studierzimmer von Herrn Gerismat Remisverbil, um seinen Atlas zu holen. Sie hatte nicht gewagt Licht mitzunehmen, falls der Herr Gerismat wieder einmal über dem Studium seiner Bücher eingeschlafen sein sollte. So tastete sie sich im Dunkeln an das Pult heran auf dem gewöhnlich der große Atlas lag, fand ihn, klappte ihn zu und klemmte ihn sich unter den Arm. Zurück in ihrem Zimmer packte sie das Buch, samt dem Kohlestiftstummel, der wie ein Lesezeichen aus der Mitte des Atlanten herausragte, zu den restlichen Sachen in ihre Reisetasche, warf sich ihren weißen Umhang über und machte sich auf den Weg.
Anima schnaufte, als sie endlich im Trichterboden der riesigen Krone des Palastbaums ankam. Die Grenzen des mächtigen dunklen Blätterdachs verschmolzen mit dem Nachthimmel. Die starken Arme der Äste, auf denen das Dach ruhte, strebten von der Mitte des Stammes aus in die Höhe. Ein kalter Wind fuhr Anima durchs Haar. Die Äste wogten leicht und das Dach rauschte.
Anima raffte ihr knöchellanges Kleid mit einer Hand, hob mit der anderen die Tasche auf und lief über einen der breiten schwarzen Arme bis dorthin, wo der Ast sich teilte. Die Astgabel bildete das Bett von Trinquallitas. Ein weiterer Arm gabelte sich zum Schlafplatz seiner Mutter, Cifalitas. Beide schliefen. Anima schob sich möglichst leise an Trinquallitas heran.
„Psst! Trinquallitas! Psst, wach auf!“, flüsterte sie.
Der Drache schlief auf dem Rücken. Den Bauch den wolkenverhangenen Monden zugewandt und die vier Tatzen von sich gestreckt. Er hatte einen Rumpf so lang wie zwei Cerquii und einen ebenso langen Schwanz.
Anima setzte die Tasche ab und kletterte über eine seiner Hintertatzen auf den Bauch. Trinquallitas war weich und warm und Anima versank beinahe in seinem flauschigen, weißen Fell. Auf Knien kämpfte sie sich bis zu seinem Kopf vor.
„Trinquallitas, du musst mich zum GroßMedopifexius bringen! Jetzt sofort!“
Der weiße Drache brummte wohlig, rollte sich auf den Bauch und schlief weiter. Anima hatte sich gerade noch mit einem Sprung in Sicherheit bringen können.
„Trinquallitas! Wach auf!“, rief sie lauter.
Da zuckte sie zusammen. Cifalitas! Hoffentlich war sie nicht wach geworden.
Doch Cifalitas hatte sich nicht von der Stelle gerührt.
„Trinquallitas!“, rief sie gedämpfter. Sie stand nun vor dem mächtigen Kopf des Drachens. Die Lider waren geschlossen und darunter rollten die Augen hin und her, von denen jedes so groß war wie Animas Kopf.
„Alles wird kommen, wie es kommen soll“, brummte der Drache im Schlaf. Seine breite Nase war flach und nach oben gebogen und
Anima sah die fingerlangen Nasenhaare mit jedem Atemzug vor und zurück wehen. Das flauschige, kurze Fell in seinem Gesicht wuchs neben und unter dem Maul länger, sodass es aussah, als hätte er einen Kinn- und einen Backenbart.
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