Anja Haverkock
Anima Overta
Prinzessin des Baumbergs
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Inhaltsverzeichnis
Titel Anja Haverkock Anima Overta Prinzessin des Baumbergs Dieses eBook wurde erstellt bei
Diese Geschichte widme ich meinen Eltern, die mir stets den Rücken stärken; meinen Kindern, die mir Mut zum Kämpfen verleihen; und meinem Mann, der mit mir über weise Entscheidungen streitet. Anja Haverkock Anima Overta Prinzessin des Baumbergs Möge dir die Stärke zuteilwerden, Unabänderliches anzunehmen, und der Mut, für Veränderbares zu kämpfen, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden. (in Anlehnung an Reinhold Niebuhr)
Im Bann des Roten Drachen
Unabänderlich?
Fest entschlossen
Der lautschluckende Berg
Durch Schlick und Schilf
Ins Fass
Eine lange Geschichte
Und wieder naht der Anfang vom Ende
Auf der Flucht
Talente
Die Anhörung
Die Nacht der stürzenden Wasser
Im Dünengürtel
Auf den Salzfeldern Lisanaúms
Verlassen und verkauft
Sprung ins Ungewisse
Gefangen im Eismeer
Scub Aglies, die Stadt unter dem Eis
Durch die Eiswüste
Das Zeichen der Unterscheidenden
Zu spät?
Das Ziel vor Augen
Heimkehr
Der Kampf beginnt
Geschuppte Schwingen
Die Entscheidung
Midherbstfest – sechs volle Monde später
Impressum
Diese Geschichte widme ich
meinen Eltern, die mir stets den Rücken stärken;
meinen Kindern, die mir Mut zum Kämpfen verleihen;
und meinem Mann, der mit mir über weise Entscheidungen streitet.
Anja Haverkock
Anima Overta
Prinzessin des Baumbergs
Möge dir die Stärke zuteilwerden, Unabänderliches anzunehmen,
und der Mut, für Veränderbares zu kämpfen,
und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.
(in Anlehnung an Reinhold Niebuhr)
Im Bann des Roten Drachen
Anima rannte über die Verkündigungsterrasse, sodass ihre Füße über das blankpolierte Holz flogen und ihr Kleid und die langen goldgrünen Locken hinter ihr her flatterten.
„Prinzessin Anima!“
Anima lief weiter.
„Ihr könnt doch nicht einfach davonlaufen, mitten in der Anprobe! So denkt doch an das Kleid!“
Anima hielt inne und drehte sich um. Ihr Atem ging stoßweise. Famlua, ihre Zofe, stand auf der Treppe, die sich am Palastbaum emporwand und beugte sich weit über die hölzernen Efeuranken des Geländers.
„Wie soll Frau Xettrina Eure Änderungswünsche einarbeiten, wenn Ihr damit davonlauft?“, rief sie.
Anima sah an sich hinunter. Der Stoff war lindgrün, fast durchscheinend und in drei Lagen übereinander genäht. Unter dem zarten Ansatz der Brüste, war er gerafft und fiel an dem langgliedrigen Körper bis zu den Knöcheln hinab, wo er in versetzten Spitzen endete. Die Ärmel wurden mit dünnen Bändern oberhalb der Ellbogen geschnürt und hingen ebenfalls in versetzten Spitzen über die Unterarme. Ein Traum von einem Kleid! Doch dann zuckte Anima mit den Schultern.
„Sie soll ein neues anfertigen!“, rief sie und rannte weiter.
„Aber Prinzessin! Allein der Stoff...“ Famluas Stimme brach ab.
Die Prinzessin war am Ende der Verkündigungsterrasse angekommen und lief die breite, sichelförmige Freitreppe hinunter, immer drei Stufen auf einmal nehmend.
„Und Königin Nirega?“, rief die Zofe ihr hinterher. Es klang wie das heisere Krächzen eines alten Ulauls. „Sie wird sehr verärgert sein über Euer Benehmen!“
Es war ein wunderbarer Spätsommertag. Es roch nach Esscaansteas, die die Baumberger in dieser Jahreszeit körbeweise aus den Wäldern holten und im Palasthof zum Trocknen ausbreiteten. Die Sonne strahlte vom Himmel und ließ die unzähligen tropfenförmigen Blätter der Königsbäume hellgrün leuchten. Wo die Sonnenstrahlen Lücken fanden im dichten Blätterdach, blitzten sie auf oder warfen helle Tupfer auf den weichen Waldboden des Palasthofs.
Inmitten eines Bündels von Sonnentupfern blieb Anima stehen. Sie legte den Kopf in den Nacken, schloss die Augen und genoss die Wärme auf dem Gesicht. Es tat gut, dem Rauschen der Bäume zuzuhören; es tat gut, den weichen Waldboden zu spüren; und es tat gut, selbst zu entscheiden, was man tun wollte. Ihr Atem beruhigte sich und das Pochen ihres Herzschlags wurde leiser.
Plötzlich war die Sonne auf Animas Gesicht verschwunden. Die Prinzessin öffnete die Augen und sah einen Schatten über das Blätterdach gleiten; düster, schmal und ungewöhnlich schnell. Dann stand sie wieder im hellen Licht der Sonnentupfer.
Anima atmete tief durch und schlenderte über den Hof. Die stoffüberspannten Stände leuchteten farbenfroh. Wie immer boten sie mit bunten Steinen besetzten, aus Edelholz geschnitzten Schmuck an, kunstvolle Gewänder und duftende Leckereien. Kinder rannten zwischen den Reihen ausgebreiteter Esscaansteas hindurch und Frauen verscheuchten sie. Zwei Männer saßen auf Wurzeln und flochten Körbe und eine Gruppe alter Baumbergerinnen hatten ihre Mahlsteine zusammengeschoben und mahlten Eicheln zu Mehl. Und hinter dem Treiben im Palasthof ragten die mächtigen Königsbäume auf: groß und stark, Stamm an Stamm, mehr als fünfhundert von ihnen zogen einen weiten Bogen um den Palasthof. Und in der Mitte des Hofes stand der Palastbaum, die Mutter aller Königsbäume, umringt von ihren Kindern, die noch nicht einmal die Hälfte ihrer eleganten, sagenumwobenen Höhe erreicht hatten. Das genaue Alter des Palastbaums konnte nicht mehr festgestellt werden, aber den Überlieferungen zufolge war er mehr als zweitausend Generationen alt. Auf mächtigen Hochwurzeln stand er; Wurzeln, die im Osten so weit in den Palasthof hineinreichten, dass die Baumberger die Verkündigungsterrasse daraus geformt hatten. Der Stamm des Palastbaums war glatt wie ein Kieselstein. Handwerker schliffen ihn unentwegt; polierten sein Holz bis es glänzte; schälten jede einzelne Stufe der kunstvollen, gewundenen Treppe nach, die von den Königsgemächern unterhalb der Krone am gebildeten Hofstaat und den Bediensteten vorbeiführte bis hinunter zu den Stallungen in den Hochwurzeln; versahen ihn mit zartgliedrigen Schnitzereien und prächtigen Figuren; oder formten einen Überhang zu einem neuen zierlichen Erker oder einem weiteren kunstvollen Balkon. Und über all dem spannte der Palastbaum seine mächtige Krone wie einen riesigen Schirm.
Anima suchte den Boden ab nach dem knorrigen Wurzelstück, das wie das verholzte Abbild der Nase des HofMedopifexius` aus dem Boden ragte. Da. Sie stellte sich daneben und richtete die Fußspitzen auf den nächsten Königsbaum aus. Dann sah sie sich kurz um. Niemand beachtete sie. Sie schloss die Augen und zählte die Schritte. Als sie bei fünfundsiebzig ankam, streckte sie die Arme aus und berührte den Königsbaum. Die Borke war fast ebenso glatt geschliffen wie die des Palastbaums. Anima strich mit den Händen darüber. Um den Stamm zu umarmen, wären mehr als zwanzig erwachsene Baumberger nötig gewesen. So lehnte sie nur die Wange gegen den Baum und sog dessen Duft ein. Und wie sooft spürte sie dessen Ruhe und Kraft; sie hörte ihn atmen und lauschte dem Leben in ihm.
Immer und immer wieder hatte ihr Vater ihr von den alten Borra Tectichari erzählt und von deren wunderbaren, unermesslich großen Leistung, der sie bis heute den Baumberg verdankten: der Kunst, die Königsbäume, von deren einhundertsten Lebensjahr an, sanft auszuhöhlen, ohne den Bäumen dabei Schaden zuzufügen. Die Wurzeln trugen weiterhin das Wasser mit der lebensnotwendigen Nahrung durch den Stamm bis in das äußerste Blatt; und obwohl der Stamm innen hohl war, lebte der Baum und wuchs und wuchs und bot dem Volk der Baumberger Raum zu leben. Später, als die Kronen der Königsbäume zu einem mächtigen Blätterdach zusammengewachsen waren, erfanden die Baumeister ein ausgeklügeltes Netz von Kanälen, die das Regenwasser vom Blätterdach ins Innere der Wohnungen leitete. Der Baumpalast gedieh.
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