Anima war müde, ihr taten die Füße weh, und sie fragte gereizt:
„Was ist? Sind wir da?“ Sie fuhr zusammen, als sie ihre Stimme vernahm. Die Worte hörten sich ganz abgehackt an, als risse jemand sie ihr vom Mund weg.
Der fettere der beiden Wächter zog einen großen, glänzenden Schlüssel aus der Tasche seiner Hose und steckte ihn in ein kleines Loch an der Seite der Kammer. Da erst erkannte Anima die steinerne Tür darin. Er drehte den Schlüssel, und mit vereinten Kräften zogen die Wächter die Tür auf. So schwer wie sie aussah, hätte sie laut Kratzen oder Quietschen müssen, aber es war nur ein kurzes Knacken zu hören, dann war es wieder still.
Muffig eiskalte Luft schlug ihnen entgegen, wie aus einem uralten Grab. Sie stiegen eine enge Treppe hinunter. Die Stufen waren steil, uneben und so schmal, dass sie nur hintereinander gehen konnten. Mit jedem Schritt, den sie tiefer stiegen, wurde das Licht der Fackeln schwächer und schließlich war es nur noch ein schwaches Glimmen.
Irgendwann hörten die Stufen auf. Sie hatten das Ende der Treppe erreicht. Anima versuchte das Dunkel mit den Augen zu durchdringen und langsam schälten sich daraus die Umrisse eines kleinen, runden Raumes: dem Loch!
Anima erstarrte.
Einer der Wächter steckte seine Fackel in eine Halterung an der Wand, der andere bückte sich. Etwas Metallenes quietschte, dann war das Geräusch auch schon wieder geschluckt. Ein kurzes Klacken und etwas Kaltes, Hartes schloss sich eng um Animas Knöchel. Wortlos wandten die Wächter sich um und machten sich an den Rückweg, und Anima war allein.
Reglos stand sie da. Es war alles so unwirklich: wie sie über dem Gewitterkessel abgestürzt war, wie Trinquallitas verschwunden war, diese eigenartigen Goldkörper, dieser Berg, dieses Loch! Vielleicht träumte sie ja doch.
„Prinzessin? Prinzessin Anima, ist alles in Ordnung mit Euch?“, hörte sie Gerismat Remisverbil fragen. Es klang, als würden die Worte unter einem Tuch erstickt, sobald sie ausgesprochen waren.
Also, doch kein Traum! Sie sank zu Boden. Der Grund war hart und feucht und die Kälte kroch ihr in die Glieder.
„Ach, Herr Gerismat! Einen Augenblick lang hatte ich Sie ganz vergessen“, hauchte Anima.
„Wir befinden uns wirklich in einer äußerst misslichen Lage“, sagte der Herr Gerismat, als halte er einen Vortrag über die Bedeutung von mangelhaft gespitzten Kohlestiften.
„Sie werden uns hier unten schon nicht sterben lassen“, fügte er zögerlich hinzu.
„Sicher?“, meinte Anima. Das Metall um ihre Knöchel schnitt ihr ins Fleisch. Sie zerrte an der Kette.
Irgendetwas knarrte dumpf, fiel aus der Wand auf sie zu und blieb direkt vor ihr auf der Erde liegen. Im schwachen Schein des Lichts konnte sie nicht erkennen, was es war. Vorsichtig stupste sie mit dem Fuß dagegen. Ein leises Knacken. Etwas rollte ein Stück.
Anima starrte in die leeren Augenhöhlen eines Totenschädels und schrie auf. Auch der Herr Gerismat stieß einen Schrei aus. Doch das Loch verschluckte den Schall.
Animas Herz raste. Hastig schob sie sich von dem Schädel weg, soweit die Eisenkette an ihren Fußschellen es zuließ.
„Glauben Sie immer noch, dass man uns hier unten nicht sterben lassen wird?“
Der Herr Gerismat schwieg.
Animas Knöchel waren aufgeschürft und taten weh. Sie riss zwei lange Stoffstreifen aus dem Saum ihres Kleides und schob sie unter das Metall. Sie musste an Perscpiù denken und daran wie seine Wunde den Kopfverband dunkel gefärbt hatte. Ob er immer noch reglos in seinem Bett lag?
Anima ließ den Kopf auf die Arme sinken und zog die Beine an den Körper. Sie hatte ihm helfen wollen, und nun... Sie wünschte, sie könnte wie früher mit ihm durch die Wälder reiten. Sie wünschte...
Ein Rütteln an ihrem Arm weckte sie.
„Pst! Du da!“, fistelte es ihr ins Ohr. „Komm mit!“
Jemand zerrte an ihrem Arm und Anima fasste sich unwillkürlich an die schmerzenden Knöchel. Die Eisen waren ab. Sie lagen aufgebrochen neben ihr.
„Komm! Schnell!“
Es war Goldengelchen. Mit einem Mal kam sie ihr gar nicht mehr so klein vor.
„Was machst du hier? Hat dich jemand geschickt?“
Goldengelchen senkte den Kopf, und ihr Doppelkinn sah aus, als trage sie einen dicken Ring um den Hals.
„Nein. Niemand darf wissen, dass ich hier bin“, sagte sie, den Kopf immer noch gesenkt.
„Aber ich sitze zu Unrecht in diesem Loch! Warum wollt ihr das nur nicht verstehen?“ Am liebsten hätte Anima das fette Mädchen geschüttelt bis ihr die Worte in das Gehirn gedrungen wären.
„Aber alle Goldkörper sind taub, oder wenigsten fast. Das Einzige, was wir gut hören können, sind die hohen Stimmen anderer Goldkörper. Wusstest du das nicht?“
Taub?
„Interessant“, klang der Herr Gerismat dumpf aus Animas Gürteltasche heraus.
„Vor vielen Generationen sollen wir Ohren gehabt haben, mit denen wir andere Wesen verstehen konnten. Aber seit wir in dem lautschluckenden Berg nach Gold schürfen, ist unser Gehör verkümmert.“
„Aber DU kannst mich doch hören, oder nicht?“, fragte Anima und betrachtete Goldengelchens runden Kopf. Dass ihr das bisher nicht aufgefallen war? Nur kleine, runde Wülste waren zu erkennen, wo sie die Ohren vermutet hätte, und auf einer Seite ein winziges Loch.
Goldengelchen war Animas forschenden Blick gefolgt.
„Da bin ich vor Jahren in einen Dörrbusch gestürzt. Eine Astspitze hat geradewegs mein Ohrbleibsel durchbohrt. Seitdem kann ich hören. Nicht nur die hohen Stimmen unserer Leute. Alles. Den Wind, den Donner, sogar den Sand kann ich rieseln hören. Meine Mutter meint es ist unanständig, ich soll es niemanden wissen lassen. Außerdem wäre es sowieso zu nichts nütze“, erklärte sie unsicher.
„Immerhin verstehst du mich!“, sagte Anima.
„Und die anderen?", schaltete sich Gerismat Remisverbil ein. "Wie sprecht ihr mit Fremden oder mit diesen Grauhäutern oder – wie nannte dein Vater sie noch - Rotgesichtigen, wenn ich fragen darf?“
Goldengelchen zuckte mit den Schultern.
„Wir sprechen nicht viel mit anderen Wesen. Wozu auch? Wir suchen nach Gold.“
Die sonderbaren Fistelstimmen, dass sie über alles, was Anima sagte, einfach hinweggegangen waren... Mit einem Mal passte alles zusammen.
„Aber wenn die da oben ihren Irrtum nicht eingesehen haben, was willst du dann von mir?“
„Ich will dich hier rausholen.“
Anima sprang auf.
„Du meinst, du holst mich raus aus diesem Loch?“ Im nächsten Augenblick fügte sie misstrauisch hinzu: „Warum?“
„Ich habe einen kleinen Bruder. Ich weiß wie es sich anfühlt, wenn man für etwas bestraft wird, das man nicht getan hat. Und du hast das Gold nicht gestohlen. Es ist viel unreiner als unseres.“ Sie holte etwas aus der Tasche ihres Kleides und betastete es. Es blitzte im Fackelschein. Es war eine von Animas Goldmünzen. Sie steckte sie wieder zurück.
Anima biss sich auf die Unterlippe und schwieg.
„Außerdem bist du kein Grauhäuter. Grauhäuter sind... viel dürrer und hässlicher, und... sie haben keine grünen Augen. Sie haben Wiesen, die beinahe so grün sind wie deine Augen. Aber sie halten Tiere darauf.“ Angewidert verzog Goldengelchen das Gesicht. „Und sie haben kein Gold. Sie wissen nicht einmal wie man danach sucht, und sie haben keine Ahnung davon, wie man daraus Münzen, Ketten oder Armreifen macht. Sie sind arm, dumm und diebisch. Genau wie die Rotgesichtigen.“
Anima stöhnte. Nachbarn, die arm, dumm und diebisch sind, schien es wohl überall zu geben.
„Aber jetzt komm! Du musst weg sein, bevor es hell wird.“
Als sie aus den Gängen des lautschluckenden Berges heraustraten, verblasste das Funkeln der Sterne bereits und Schlieren von Rosaviolett mischten sich in das Blau der schwindenden Nacht.
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