In dieser Sekunde erschien Robert.
Einen Moment lang stand er in der blauen Wolke, die sich plötzlich auflöste und nicht mehr zu sehen war.
„Hast du das auch gesehen?“
Faith winkte ihrem Vater zu.
„Was gesehen“, rief er und winkte zurück.
Schnell kam er über den knirschenden Schnee auf sie zu.
Faith sah ihn prüfend an. Sie war sicher, dass er log, er musste die blaue Wolke gesehen haben. Aber warum log er?
Nach dem Essen, das ziemlich wortkarg verlief, weil Vater und Tochter ihren eigenen Gedanken nachhingen, schnallte Faith sich die Skier an und lief zurück ins Dorf.
Madame Agnes, bei der Faith französische Konversation lernte, trug wie immer ihre graue Wolljacke und eine altmodische Zopffrisur, die hier und da die rosige Kopfhaut durchschimmern ließ.
Sie wieselte vor Faith her in ihr gemütliches Arbeitszimmer.
„Du bist heute wieder mal zu spät“, sagte sie nach einem Blick auf die Uhr in fließendem Französisch. Aber es lag kein Vorwurf in ihrer Stimme.
„Der Schnee ist noch tief, die Rillen nicht ausgefahren, dadurch dauert die Fahrt ein wenig länger“, erwiderte Faith, viel weniger fließend.
„Haben Sie schon mal blaue Schmetterlinge im Winter gesehen, Madame?“
Faith stellte die Frage ganz unbewusst, ihre Gedanken waren immer noch bei der blauen Wolke.
Erschrocken hielt sie inne. Was für eine blöde Frage. Ihre Lehrerin musste sie für verrückt halten. Das tat Madame keineswegs, aber sie beantwortete die Frage ihrer Schülerin auch nicht.
Nach der Stunde sah Madame Agnes Faith gedankenverloren hinterher.
Madame hatte in der Tat schon einmal von blauen Schmetterlingen gehört, vor vielen Jahren, nachdem ihre Tochter, die wie sie selbst den Namen Agnes trug, in Irland Urlaub gemacht hatte.
Im Norden des Landes war es schon kühl gewesen, aber die Schmetterlinge flogen aufgeregt und scheinbar desorientiert in der herbstlichen Kühle.
So hatte die junge Agnes es ihr erzählt.
Eines der kleinen Dinger hatte sie in ihrem Zimmer gefunden, wo es zornig brummend hin- und herflog. Der Falter besaß ein wirres rotes Fellchen und schaute sie aus ganz menschlichen, hellgrünen Augen an.
Damals hatte sie ihrer Tochter nicht glauben wollen, hatte ihr nicht richtig zugehört. Sie war so merkwürdig verändert wiedergekommen, so überspannt, dass sie sich Sorgen um ihren Geisteszustand gemacht hatte.
Die alte Dame seufzte.
Hätte sie ihr damals mehr Glauben schenken sollen?
Vielleicht wäre dann alles ganz anders gekommen ...
Faith stapfte Richtung Mommsen, nicht ahnend, was sie mit ihrer Frage in Madame Agnes’ Seele angerichtet hatte.
Im Mommsen traf man sich.
Dort gab es das beste Eis, die beste Pizza und Faith wusste, dass sie Lisa dort treffen würde.
Das Mommsen war voll. Eigentlich war das Mommsen immer voll.
Lisa saß an einem der hinteren Tische, direkt am Durchgang zum Klo, mit Blick auf den Eingang.
Sie fuchtelte wild mit den Armen, als sie Faith hereinkommen sah.
Die Besucher der Eisdiele waren fast alle Schüler des Internats, mal abgesehen von einigen wenigen Touristen, die nicht ahnten, auf welchen Lärm sie sich einließen.
Die Bewohner des Dorfes gingen lieber zu Gaby in den Gasthof oder gar nicht aus.
Bei Gaby, der Wirtin, gab es Rouladen, Schnitzel und herrlich knusprige Bratkartoffeln mit reichlich Zwiebeln und Speck.
„Hast du schon gehört, der Neue soll aus Bahrain stammen. Der Name bedeutet zwei Meere.“ Lisa zauderte und setzte hinzu: „Dort gibt es haufenweise Luxushotels und die Leute sind praktisch alle reich!“
Faith sah ihre Freundin an und verdrehte die Augen nach oben. „Und woher weißt du das alles?“
„Hab ich gegoogelt!“
„Nein, ich mein doch, dass Richard daher kommt.“
Bevor Lisa antworten konnte, öffnete sich die Tür.
Mit der kalten Luft kamen auch Patricia und ein Schwarm plappernder Mädchen herein.
Sie zogen ihre dicken Jacken aus, hängten sie über die Stuhllehnen an dem letzten leeren Tisch und setzten sich.
Patricia sah sich um und verzog spöttisch den schönen Mund, als sie Faith und Lisa entdeckte.
Während Faith mit Lisa im Mommsen auf ihr Eis wartete, saß Robert, ihr Vater, an seinem Schreibtisch und starrte auf den dunklen Bildschirm.
Er dachte an seine Tochter, die nun fast 17 Jahre alt war.
Irgendwann würde er ihr die Wahrheit sagen müssen, ihr erklären müssen, wer sie war.
Seine Finger trommelten eine nervöse Melodie. „Vertraute Grenzen ihrer Wahrnehmung würden sich auflösen“, dachte er. Würde er die richtigen Worte finden? Nichts würde für sie wie vorher sein.
Als er, 18 Jahre zuvor, nach Irland gereist war, um Material für ein Buch zu sammeln, hatten das Land und die Menschen ihn so fasziniert, dass er beschloss, sich dort für eine Weile niederzulassen.
Er fand ein winziges Steinhaus im Norden der Insel.
Das Haus bestand nur aus zwei Kammern. Einer Küche mit der Feuerstelle, die sowohl als Kochherd als auch als Heizung gedacht war, und einem angrenzenden Raum, der ihm zum Schlafen diente.
Der Pub, zwei Kilometer entfernt, deckte seine Ansprüche, was das Essen anlangte, völlig.
Er kochte fast nie selbst.
Robert saß lieber bei den Einheimischen in der Kneipe und hörte ihnen zu.
Er liebte es, ihren Geschichten und Liedern zu lauschen.
Wenn er damals nachts, auf dem Weg nach Hause, oberhalb der Steilküste entlanglief, spürte er manchmal Blicke, die ihm folgten.
Kein Wunder, die Geschichten der Männer im Pub waren beinahe immer unheimlich.
Schauergeschichten eben.
Einmal glaubte er, einen schwarzen Schatten zu sehen, der ihn eine ganze Weile begleitete.
Bewegliche, goldene Lichter, die ihn aus dem kleinen Wald heraus beobachteten.
Wenn er stehen blieb, waren sie verschwunden.
Weiße Nebel waberten um ihn herum, während die Wellen unter der Steilküste laut schmatzend an die grauen Felsen schlappten.
Er näherte sich dem Rand des dunklen Wäldchens, aus dem keuchender Atem zu hören war. Robert hielt die Luft an und horchte.
Der Nebel hüllte ihn immer dichter ein, fühlte sich an wie eine feuchte Decke aus Watte, schärfte aber gleichzeitig seine Sinne.
Das Schmatzen der Wellen am Fuß der Felsen verwandelte sich in zorniges Gebrüll, gerade so, als ob das Meer das Land gleich verschlingen wollte.
Als er sich auf den Weg zurückzog, stolperte er und fiel über eine Wurzel.
Mit den Händen versuchte er sich abzustützen und griff dabei in eine weiche, glibberige Masse, die sich unter seinen Händen wand und lauthals quietschte. Widerlicher, süßlicher Gestank stieg in seine Nase.
Hilflos mit den Armen rudernd, versuchte er den Glibber loszuwerden und sich aufzurichten, als ihn ein schwerer dunkler Schatten ansprang und zu Boden drückte. Niemals in seinem Leben hatte Robert sich so hilflos gefühlt, dachte er noch, bevor ihm die Sinne schwanden.
Als er erwachte, lag er in der Schlafkammer seiner Hütte. Sein Körper fühlte sich an, als sei er durch den Fleischwolf gedreht worden, aber er konnte sich bewegen. Hatte er geträumt?
Als Robert die Lider hob, blickte er in strahlend grüne Augen, die ihn besorgt ansahen. Diese Augen gehörten in ein schmales Gesicht, dessen Blässe nur von einigen fast goldenen Sommersprossen über der Nase unterbrochen wurde, was ganz zauberhaft aussah.
Robert gefiel sehr, was er sah.
Wie war er nach Hause gekommen, was war im Wald geschehen?
„Ich habe dich nach Hause gebracht, du bist gefallen.“
So, als ob diese bezaubernde junge Frau seine Gedanken lesen könnte, antwortete sie auf seine unausgesprochenen Fragen.
Читать дальше