Ihm als Inspektor der Altertümerverwaltung oblag die Überwachung aller archäologischen Aktivitäten im Distrikt Sohag, der allerdings außer Abydos nur unbedeutende Stätten aufwies. Die Wissenschaftler, die unter Nur ed-Dins Aufsicht standen, interessierten sich für nichts außer Inschriften in Beamtengräbern und sammelten mit Vorliebe Erkenntnisse über das alltägliche Leben im frühen Ägypten. Nur ed-Din hätte ihnen etwas über das alltägliche Leben im heutigen Ägypten erzählen können. Er war lange genug Diener des ägyptischen Staates, so wie die Inhaber jener Gräber, für die sich die Herren Wissenschaftler so sehr interessierten, treue Beamte des pharaonischen Ägyptens gewesen waren. Im Unterschied zu ihnen allerdings war er weit davon entfernt, sich auch nur annähernd ein ähnliches Grabmal leisten zu können wie das, das Weni der Ältere, Wesir mehrerer Pharaonen des Alten Reichs, sich in Abydos hatte errichten lassen. Wenn Nur ed-Din so was denn gewollt hätte. Doch das Leben im Jenseits interessierte ihn eigentlich kaum. Er lebte hier und heute, und das Leben war teuer.
Inschriften! Wie wäre es stattdessen mit einer echten Sensation in seinem Bezirk, so dass ein bisschen Glanz auf ihn abfiele? Ein Pharaonengrab mit einem Goldschatz in Abydos, das wäre nach seinem Geschmack – am besten ausgegraben von ihm selbst, und noch besser unter völligem Ausschluss der Öffentlichkeit. Doch leider war so was ausgeschlossen, denn jene Pharaonen, die sich mit nennenswerten Mengen von Gold hatten bestatten lassen, hatten zu Zeiten gelebt, in denen Friedhöfe wie der von Abydos die längste Zeit Königsfriedhöfe gewesen waren. Diese Pharaonen waren fast ausschließlich am Westufer von Luxor bestattet, im Tal der Könige, und für diesen Distrikt war Nur ed-Din nicht zuständig.
Manchmal wünschte er sich die Zeiten der Belzonis und Drovettis zurück. Heutige Archäologen hatten nicht mehr den Biss dieser Pioniere. Sie gingen nicht hin und gruben einfach, sondern sie hielten sich an die Regeln, die ihnen Nur ed-Dins Behörde und das Einmaleins der Archäologie vorgaben, und gossen den Sand fingerhutweise durch Siebe, damit ihnen kein Fundstück entging, selbst das geringste nicht. Sie dokumentierten jeden abgebrochenen Zeigefinger einer hölzernen Kriegerstatuette, wie sie fast jedem mittelmäßigen Beamten zeitweise massenhaft ins Grab mitgegeben worden waren, und gewannen auf diese Weise, wie überraschend, Erkenntnisse über massenhafte Grabbeigaben von Kriegerstatuetten in Gräbern ägyptischer Beamter vor 3800 Jahren. Wundervoll! Und wehe, einer wie Weni der Ältere, der vor mehr als 4200 Jahren gestorben war, hatte es gewagt, biographische Texte in die Wände seines Grabmals, seiner Mastaba, hauen zu lassen! Da erwachte der Genauigkeitsfimmel erst recht, denn man musste ja schließlich Klarheit darüber haben, in welchen Dattelhain der Wesir damals geschissen hatte, links oder rechts vom Osiris-Schrein?
„Also ein Tonscherbenarchiv.“ Nur ed-Din dehnte die Worte des Mannes auf der anderen Seite seines ausladenden Schreibtischs, als er sie wiederholte. „Aus der Zeit des Echnaton.“
Gamal zog den Kopf zwischen die Schultern. Er spürte die Verstimmung des Inspektors, doch er nickte tapfer und fügte hinzu:
„Ich glaube, dass sie es außer Landes schmuggeln wollen.“
Das war wenigstens mal eine Information! Nur ed-Din waren die Berichte seiner Agenten wesentlich lieber als die ausgedruckten Mails. So bekam er gleich noch eine Einschätzung obendrauf.
Es würde ihn nicht wundern, wenn Archäologen wieder versuchten, gegen geltende Regeln zu verstoßen und Funde wie zu Belzonis Zeiten auf eigene Faust aus dem Land zu bringen. In Ägypten wähnten sie ihre Entdeckungen nicht mehr sicher, und vermutlich lagen sie damit sogar richtig. Möglicherweise kippte irgendeine Gruppe von fanatischen Anhängern der Partei des Lichts – auf Arabisch Al-Nur – dieses dreitausendjährige Tonscherbenarchiv demnächst einfach in den Nil.
Tonscherben!
Nur ed-Din seufzte.
Da sah er aus den Augenwinkeln, dass das Display seines Handys aufblinkte. Das Gerät lag verborgen vor Gamals Blicken unter dem Schreibtisch auf einem Rollcontainer.
Tedritov!
Solange Nasser el-Kebir krank und außer Dienst war, war Bernard Tedritov Nur ed-Dins höchster Vorgesetzter – und noch ein bisschen mehr als das. Der Inspektor reagierte schnell. Wenn sein Chef auf dem Handy anrief, war es eilig, und dann war es besser, wenn niemand zuhörte.
„Es ist gut“, sagte Nur ed-Din zu Gamal und winkte, damit der Agent ging. Erst als Gamal die Tür von außen hinter sich geschlossen hatte, nahm Nur ed-Din das Gespräch entgegen.
„Warum hat das so lange gedauert?“, zischte ihn die wohlbekannte Stimme an. Nur ed-Din ließ sich jedoch nicht einschüchtern. Die Stimme seines Chefs hatte immer einen leicht zischenden Klang, mal mehr, mal weniger, je nachdem, wie ungeduldig oder verstimmt er war. Daran hatte sich Nur ed-Din gewöhnt.
„Ich musste erst jemanden loswerden.“
„Das muss beim nächsten Mal schneller gehen!“
„Verstanden.“
„Erinnern du dich daran, was wir besprochen haben?“
Ein kalter Schauer rieselte Nur ed-Dins Rücken hinab. Wie könnte er das vergessen? Diese Worte konnten nur eines bedeuten: Sie würden endlich loslegen. Die Zeit war gekommen!
Augenblicklich spannte sich sein hagerer Körper, und seine Augen begannen zu tränen, wie immer, wenn er erregt war. Diese Augen! Er hasste seine großen, stets entzündet wirkenden Augen und die schwer herabhängenden Lider, aber er wusste auch um den Vorteil, dass er ihretwegen schon oft unterschätzt worden war. Wer in diese Augen blickte, hielt ihn fast automatisch für einen langsamen, begriffsstutzigen Menschen. Zudem bewegte Nur ed-Din sich linkisch und träge, um diesen Eindruck noch zu unterstützen. Es war gut, unterschätzt zu werden.
Er wischte die Tränen weg. Natürlich erinnerte er sich an Tedritovs Worte!
Vor fast zwei Jahren, kurz nachdem Omar el-Malak, der Muslimbruder, ägyptischer Staatspräsident geworden war, hatten sie sich in Tedritovs Büro in Gizeh getroffen. Tedritov war da noch Inspektor der Altertümerverwaltung für den Bezirk al-Dschiza gewesen, zu dem der Pyramidenbezirk von Gizeh gehörte, aber auch das Gebiet von Memphis, der altägyptischen Hauptstadt Men-Nefer – ein bedeutender Posten also. Doch Tedritov wollte mehr.
Sie kannten sich lange genug, und Tedritov hatte immer wieder Andeutungen gemacht, dass er etwas plane – etwas Bedeutendes, etwas, das Ägypten umkrempeln würde. Nur ed-Din hatte sehnsüchtig auf den Tag gewartet, an dem Tedritov endlich alle Karten auf den Tisch legte. Er selbst war damals nur stellvertretender Inspektor in der Provinzhauptstadt Sohag – ein Posten, den Tedritov ihm verschafft hatte. Der Mann sorgte für seine Leute. Trotzdem hockte Nur ed-Din immer noch in Sohag, wenn auch inzwischen als Inspektor. Tedritov hingegen war währenddessen in atemberaubendem Tempo erst Oberinspektor für das Delta und dann stellvertretender Direktor der Altertümerverwaltung geworden.
Dort, in Tedritovs Büro, waren Worte gefallen, die Nur ed-Din niemals im Leben vergessen würde. Entscheidende, verschworene Worte, die das Bündnis zwischen ihnen besiegelten. Nach der Revolution und der Machtübernahme der Islamisten hatte Ägypten begonnen, sich zu verändern, und Tedritov plante, auf der Gewinnerseite zu stehen und gemeinsam mit Nur ed-Din ein lohnendes Geschäft aufziehen.
Tedritov hatte ihm eine Landkarte auf dem Monitor seines Laptops gezeigt. Nur ed-Din erkannte auf den ersten Blick, dass es sich um einen Plan der uralten Nekropole von Abydos handelte. All die markanten Tempelbauten, voran der große Totentempel des Sethos, waren mit blauer Farbe eingetragen, doch daneben gab es zahlreiche Markierungen in Rot. Es dauerte ein Weilchen, bis Nur ed-Din verstand, was das bedeutete, doch dann stellten sich seine Nackenhaare auf. Während er jeder blauen Markierung ein Grab, einen Tempel oder eine andere archäologische Fundstätte zuordnen konnte, gelang ihm dies bei den roten Markierungen nicht. Doch es gab Dutzende roter Markierungen in Abydos!
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