„Davon hast du nichts erzählt“, sagte Charles.
„Ich messe dem erst seit kurzem größere Bedeutung bei“, entgegnete William ebenso würdevoll wie schwammig, „erst seit mir klar wurde, dass wir unangemessen im Dunkeln tappen. Ich erfahre einfach nichts mehr darüber, was in der Verwaltung vorgeht, rein gar nichts. Wenn ich mich nicht täusche, verlieren wir gerade unsere guten Beziehungen zu ihr.“
„Sieh dir an, was in diesem Land passiert. Die religiösen Fanatiker sind überall auf dem Vormarsch.“
„Ich habe Bernard Tedritov bisher nicht für einen religiösen Fanatiker gehalten.“
„Tedritov? Ist das …“
„… el-Kebirs Stellvertreter, ja. Er leitet die Behörde zurzeit kommissarisch, und seit er das Ruder in der Hand hat, laufe ich gegen eine Wand. Wie hast du vorhin so schön gesagt: Da besteht zweifellos ein Zusammenhang.“
Charles spürte, wie er einen roten Kopf bekam. Es rächte sich eben immer wieder, wenn er seinen Vater auf den Arm zu nehmen versuchte.
„Tedritov … Sagt mir nichts. Kennen wir den?“
„Kaum. Wir wissen, dass er gebürtiger Franzose ist und irgendwann die ägyptische Staatsbürgerschaft angenommen hat. Außerdem ist er zum Islam konvertiert.“
„Wann?“
„Kurz nachdem El-Malak nach der arabischen Revolution ägyptischer Staatspräsident wurde.“
Charles lachte verächtlich.
„Ein Opportunist und Karrierist, oder? Ein Trittbrettfahrer.“
„Der uns nicht mag und uns das derzeit überdeutlich spüren lässt. Ich habe keine Ahnung, was er gegen uns hat.“
Das Schweigen, das diesen Worten folgte, dehnte sich. Schließlich schüttelte Charles unwillig den Kopf.
„Dann sollten wir auf anderen Wegen versuchen, uns eine Grabungsgenehmigung zu besorgen“, sagte er.
William sah auf, erstaunt über den bestimmenden Tonfall seines Sohnes. Dieser Wir-Ton! Wir Carnavaughns! Das war neu an Charles. Bisher hatte William geglaubt, einen Sohn zu haben, der sich um dieses mitunter recht einschüchternde Wir nicht kümmern wollte, es sei denn, es schränkte ihn ein und zwang ihn, sich zu wehren.
Charles bemerkte das Staunen und erklärte:
„Wir haben nicht über Jahrzehnte hinweg Millionen in die Altertümerverwaltung fließen lassen, nur um jetzt eiskalt abserviert zu werden. So läuft das Spiel nicht.“
William nickte zustimmend – er wusste genau, wie dieses Spiel eigentlich funktionierte. Weder Charles noch die Carnavaughns als Familie hatten tatsächlich Geld ausgegeben oder verloren, indem sie die Altertümerverwaltung unterstützt hatten – es handelte sich um Stiftungsgelder, um die Früchte sorgfältiger, nachhaltiger Geldanlagen, die einem Zweck zugeführt wurden, so wie der alte George es vorgesehen hatte. Trotzdem war es ihr Geld, denn Onkel George war einer der ihren, auch wenn er in wissenschaftlicher Hinsicht einen zweifelhaften Ruf genoss.
„Was ist mit el-Kebir?“, fragte Charles.
„Dem Direktor? Er ist schwer krebskrank und liegt in Kairo im Krankenhaus. Heilung fraglich.“
„Er war dein guter Draht in die Verwaltung, stimmt’s?“
„Ja. Nicht ausschließlich, aber der Kontakt zu ihm war ausgezeichnet.“
„Dann sollten wir diesen Draht nutzen, ehe es nicht mehr möglich ist. Ein Krankenbesuch wäre gewiss nicht unhöflich.“
„Ein Krankenbesuch?“
„Ja – um eine Grabungsgenehmigung zu bekommen. Der Direktor wird dir diesen Wunsch nicht abschlagen können.“
„Sicher nicht, aber …“ Der alte Lord seufzte. „Ich mag es nicht, wenn die Dinge sich zu überschlagen drohen. Man muss immer versuchen, Klarheit zu erlangen und Ruhe zu bewahren. Nachdenken, bevor man schießt.“
„Du kannst gern in Ruhe nachdenken“, entgegnete Charles kühl, „aber wenn wir demnächst Klarheit darüber brauchen, was notwendig ist, um dieses Grab zu finden, dann sollten wir mit uns im Reinen sein und wissen, was zu tun ist. Also denke nicht zu lange nach.“
„Charles, du verblüffst mich! Du erscheinst plötzlich so zupackend.“
Charles lachte leise auf.
„Kann es sein, dass du mich gar nicht richtig kennst?“
Jetzt war es an William, die Lippen zusammenzukneifen.
„Ich erscheine nicht nur zupackend“, fuhr Charles fort, „sondern ich bin es – wenn auch vielleicht nur hin und wieder. Wenn ich von etwas gepackt bin. Wenn Bill Sheridan mich überzeugt, werden wir graben. Das ist mein Entschluss. Und das heißt, dass wir eine Grabungsgenehmigung brauchen. Vielleicht schon bald.“
„Ich begrüße deine Entschiedenheit, auch wenn sie mich überrascht“, entgegnete William. „Trotzdem rate ich: Höre auf einen alten Mann und seine Erfahrung und lass uns nichts überstürzen. Ehe wir nicht alle erreichbaren Fakten kennen, sollten wir nichts unternehmen. Und vor allem sollten wir Tedritov nicht unterschätzen! Es wird Gründe dafür geben, dass er es zum stellvertretenden Direktor gebracht hat. Er wird Fähigkeiten haben.“
„Was auch immer das für Fähigkeiten sein mögen“, versetzte Charles düster. „Wann fliegst du nach Kairo?“
„Bald.“ William lächelte angesichts der Ungeduld seines Sohnes. „Erst werde ich es aber auf einem anderen Weg versuchen.“
4. Kapitel
Inspektorat der Altertümerverwaltung, Sohag
2. März 2014, 13 Uhr
Ahmed Nur ed-Din residierte in einem unauffälligen, funktionalen Bau aus der Nasser-Zeit am Westufer des Nils. Die Fenster der oberen Geschosse, die sich über die verkehrsreiche, nach Mohammed Ali Pascha benannten Allee erhoben, boten Aussicht auf die Al-Akhnim-Brücke, die den Nil auf ihren gedrungenen Pfeilern überspannte, und auf unzählige Feluken und Kähne, die im gleißenden, klaren Licht der Mittagssonne auf dem Fluss unterwegs waren. Linkerhand hätte der Inspektor auf die Südspitze der Insel blicken können, an der der Nil sich teilte, und gegenüber am Ostufer erhoben sich die Gebäude der Universität von Sohag. Doch Nur ed-Din sah selbst an einem schönen Tag wie diesem nur selten aus dem Fenster. Sohag, die Provinzhauptstadt, langweilte ihn entsetzlich.
Auf seinem Schreibtisch stapelten sich einige Mappen mit den Februar-Berichten der Grabungsteams, die zurzeit in seinem Bezirk forschten. Das Zeug kam per Mail herein, seine Sekretärin druckte es aus und legte es ihm Anfang jedes Monats vor, einsortiert in diese albernen Mappen, wie sie es seit zwanzig Jahren machte. Früher Berichte, die per Kurier oder per Post hereinkamen, heute Ausdrucke von Mails. Vielleicht konnte er diese Frau bald loswerden. Jetzt brachen Zeiten an, in denen Frauen besser zu Hause blieben, und es würde nicht mehr lange dauern, bis die Regierung ein Gesetz beschloss, das weiblichen Staatsangestellten vorschrieb, künftig vollverschleiert zur Arbeit zu kommen. Die dürftige Gestalt der Sekretärin nicht mehr erblicken zu müssen, wäre sicher kein Verlust, doch Nur ed-Din wollte in Gesichter blicken und nicht in Sichtschlitze. Wenn es so weit war, würde er sich von dieser dummen, Mails ausdruckenden Person trennen und sich einen Sekretär zulegen. Mit seinen Verbindungen könnte das vielleicht sogar klappen. El-Kebir war schwer krebskrank, und Tedritov sagte, dass der Direktor nicht mehr lange leben werde.
Die Grabungsberichte interessierten Nur ed-Din nicht. Monat für Monat dieses Geschwätz über Tonscherben und die Schichten, in denen sie gefunden wurden, über Inschriften, beschädigt oder nicht, und nur ausnahmsweise kamen auch einmal ein Goldblättchen oder ein kleiner Türkis oder Lapislazuli vor – auf Dauer eine Zumutung. Natürlich zeigte Nur ed-Din sich nach außen interessiert, bisweilen sogar angetan, doch in Wirklichkeit kotzte ihn dieser kleinkarierte Routine-Betrieb an, und er konnte den Moment nicht erwarten, da sie endlich losschlugen, so wie Tedritov es ihm vor zwei Jahren angekündigt hatte. Bis dahin musste er seine Pflichten erfüllen und durfte sich nichts anmerken lassen, so schwer ihm dies auch fiel.
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