William seufzte und musterte seinen Sohn mit einer Mischung aus Anspannung und Belustigung, doch ehe er etwas sagen konnte, schaltete sich Elroy ein.
„Wenn Sie die Einmischung gestatten, Mylord, Sir“, sagte der Majordomus: „Soll ich eine Kopie der Abschrift besorgen, damit Sie sie nachher gemeinsam mit Mr. Sheridan ansehen können?“
„Darum würde ich Sie gern bitten, Elroy“, antwortete William. „Und sorgen Sie auch dafür, dass Bills Fund im Labor mit Priorität behandelt wird. Vielleicht enthält die Schriftrolle wichtige Hinweise.“
„Sehr gern.“
Jetzt erhielt der Majordomus das Zeichen, dass er sich entfernen durfte. Als sie allein auf der Veranda waren, sagte William in fast feierlichem Ton:
„Charles, die alten Geschichten holen uns wieder ein.“
„Nicht zu fassen.“ Charles schüttelte den Kopf. „Und ich bin nicht vorbereitet. Vater, wenn es dieses Grab wirklich gibt, dann sollten wir es zu finden versuchen!“
„Zuerst einmal sollten wir uns kundig machen, und zwar gründlich. Ich fürchte, wir beide haben ein gutes Stück Arbeit vor uns. Lass uns nachher Archibald anrufen, möglichst noch bevor Bill eintrifft, damit wir vor ihm nicht wie dumme Schuljungen dastehen.“
„Und dann werden wir graben“, sagte Charles, und seine Augen leuchteten, „und eine sensationelle Entdeckung machen. Vielleicht finden wir sogar einen Goldschatz wie Howard Carter im Grab des Tut-ench-Amun. Das Grab in Abydos muss unberührt sein, wenn niemand davon gewusst hat.“
So wenig er sich bisher für die alten Geschichten interessiert hatte, so aufgeregt war er jetzt. All diese Familiengeschichten hatten bisher nicht viel mit ihm zu tun gehabt – einem jungen Mann, der im Hier und Jetzt ein privilegiertes Leben führte und sich noch nicht entschieden hatte, in welche Richtung es ihn führen sollte. Er hatte viele Interessen, aber keine davon war so ausgeprägt, dass sie ihm ein Lebensziel nahelegte. Der Geschäftsführerjob von Deep Dry war etwas, was er machte, um überhaupt etwas zu machen und um, da war er ehrlich zu sich selbst, vor seinem Vater nicht gar so nutzlos dazustehen. Aber die Projekte, die Deep Dry verfolgte, gefielen ihm. Überall in Ägypten waren antike Stätten vom steigenden Grundwasserspiegel bedroht – eine direkte Folge des Assuan-Staudamms, der für einen gleichbleibenden Wasserpegel des Nils sorgte. Zu altägyptischen Zeiten hingegen hatte der Pegel im Durchschnitt niedriger gelegen als heute. Deep Dry bot eine Technologie an, die relativ kostengünstig helfen konnte, die alten Bauwerke zu schützen. Darum war das eine gute Sache, mit der Charles sich angefreundet hatte, zumal sich damit auch noch Geld verdienen ließ. Doch jetzt geschah plötzlich noch etwas anderes: Die alten Geschichten seiner Familie bekamen einen Sinn für ihn. Etwas, was mit ihm zu tun hatte, ganz direkt und persönlich. Vor Erregung hielt es ihn nicht auf seinem Stuhl. Er sprang auf und machte erneut ein paar Klimmzüge.
Sie würden in die Fußstapfen des irren George treten! Charles wurde beinahe schwindlig.
Ein sanfter, heißer Wind aus der Wüste ließ die Pinien im Garten erzittern.
„Lass uns einen kühlen Kopf bewahren“, sagte William. „Es gibt da nämlich ein Problem. Das mit der Grabung wird nicht so einfach.“
„Was meinst du?“
„Ich glaube nicht, dass wir eine Grabungsgenehmigung bekämen. Es gibt derzeit massive Probleme mit der Altertümerverwaltung.“
„Und ohne offizielle Genehmigung?“
„Würden wir eine Straftat begehen. Nach ägyptischem Recht wäre das gleichzusetzen mit Grabräuberei und Plünderung, und die wird schwer bestraft. Das ist die Konsequenz aus den vielen Plünderungen in der Geschichte der Ägyptologie.“
Charles ließ die Schultern sinken. Sein Vater war über jeden Zweifel erhaben, was seine Fähigkeiten betraf, mit störrischen Beamten umzugehen. Wenn er die Lage derart skeptisch beurteilte, dann war sie vermutlich wirklich aussichtslos.
William Carnavaughn hatte vor einem Jahr, nachdem er als Diplomat ihrer Majestät offiziell in den Ruhestand entlassen worden war, im Auftrag der Familie den Vorsitz der Carnavaughn-Stiftung übernommen. Vorher war er britischer Botschafter im Libanon, in Jordanien und zuletzt in Ägypten gewesen und hatte beste Kontakte zu verschiedenen Geheimdiensten gepflegt. Jetzt verteilte er Fördergelder für archäologische Projekte, und an gewissen Tagen, an denen er sich schwach fühlte, empfand er es als erniedrigend, aufs Altenteil abgeschoben worden zu sein. Doch er wusste, dass die Führung der Carnavaughn-Stiftung eine verantwortungsvolle Aufgabe war, denn es ging dabei um viel Geld!
Auch die Carnavaughn-Stiftung war ein Erbe des irren George. Der Lord hatte einen für damalige Verhältnisse irrwitzigen Betrag in dieser Stiftung angelegt und verfügt, dass dieses Geld nur ausgegeben werden durfte, um die Entwicklung der Ägyptologie zu fördern. Seitdem finanzierte die Carnavaughn-Stiftung Grabungen in ganz Ägypten, auch Projekte der Luxor Archaelogical Research, des in Luxor ansässigen Forschungsinstituts der Familie. Damit blieb – ein durchaus erwünschter Nebeneffekt – ein Teil der Förderung in der Familie. Besonders gern wurden natürlich Grabungen in Abydos gefördert. Es stand zwar nicht ausdrücklich in der Stiftungssatzung, aber es entsprach dem Geist, aus dem heraus die Stiftung gegründet worden war, deren Satzung schrulligerweise mit dem ersten Satz des Sethos-Papyrus begann:
„Ehre dir, vergöttlichter Osiris in all Deiner Herrlichkeit!“
Damit war allen Beteiligten klar, dass George Carnavaughn mit der Gründung der Stiftung ein Ziel verfolgt hatte, auch wenn er dieses Ziel nirgends direkt benannte.
Nicht immer im Verlauf der Jahrzehnte hatten sich lohnende Projekte gefunden, die gefördert und finanziert werden konnten, viel Geld war in der Stiftung geblieben – und in den geschickten Händen einiger Carnavaughns, die es zu vermehren verstanden. Das Stiftungskapital war seit ihrer Gründung derart gewachsen, dass man einen nennenswerten siebenstelligen Betrag zum Neubau des Archäologischen Museums in Kairo hatte beisteuern können, ohne hinterher wesentlich schlechter dazustehen. Und Jahr für Jahr flossen große Beträge zur Unterstützung an die Altertümerverwaltung, jener Behörde, die alle archäologischen Aktivitäten im Land koordinierte und überwachte. Wer auch immer in Ägypten nach Altertümern zu graben gedachte, brauchte ihre Genehmigung und ihren Segen. Das Verhältnis der Carnavaughns zur Altertümerverwaltung konnte nur als blendend und unkompliziert bezeichnet werden.
„Was ist passiert?“, fragte Charles.
William seufzte.
„Ich kenne mich nicht mehr aus“, gab er zu – ein Bekenntnis, das Charles niemals von ihm zu hören erwartet hätte. Das strenge, klare Gesicht seines Vaters wirkte plötzlich schlaff und müde. „Dieses Land verändert sich, und ich verstehe die Entwicklung nicht mehr.“
Er, der internationale Fahrensmann, der mit allen Wassern der Diplomatie, auch den dreckigsten, Gewaschene, er, der Jassir Arafat, das größte Schlitzohr des Nahen Ostens, ausmanövriert hatte, dieser Mann gab zu, der Entwicklung nicht mehr folgen zu können? Charles war erschüttert.
„Auch mir fällt es schwer, die religiösen Fanatiker zu verstehen“, sagte Charles nach einer kurzen Pause der Befangenheit.
„Ich übertreibe nicht“, entgegnete William. „Meine Drähte zur Altertümerverwaltung sind wie abgestorben. Und zwar seitdem Direktor el-Kebir im Krankenhaus ist. Ich habe keine Ahnung, was in der Verwaltung vor sich geht, und das bin ich nicht gewohnt. Nehmen wir Hassan Maliki. Ich bekomme ihn einfach nicht ans Telefon. Mal lässt er sich verleugnen, mal werde ich vertröstet.“
Hassan Maliki war Oberinspektor der Altertümerverwaltung für den Landesteil Oberägypten. Er kontrollierte die Inspektoren, denen die einzelnen Bezirke wie Assuan, Edfu, aber auch Theben oder Abydos unterstanden, und war unmittelbar dem Direktorium der Behörde unterstellt. Ein Freund der Familie, wenn man so wollte. Sein Verhalten war daher zumindest ungehörig.
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