1 ...8 9 10 12 13 14 ...22 Theo hätte zu gern gewusst, was Bill nach Luxor durchgab – und mit wem er sprach. Doch er hatte immerhin einen Verdacht.
Dort sitzen seine Chefs. Die berühmten Carnavaughns!
3. Kapitel
Carnavaughn House, Luxor
2. März 2014, 13 Uhr
Auf der Straße vor der Villa, einer zweistöckigen Residenz im besten Vorort Luxors, stritt sich in der Mittagshitze ein Taxifahrer mit einem Eseltreiber lautstark um das Privileg der Vorfahrt, doch im Garten hinter der Villa war es schattig und ruhig. Die warme Luft war gesättigt vom erfrischenden, harzigen Duft mächtiger alter Pinien und erfüllt vom Konzert der Grillen.
Auf der von blühenden Hibiskushecken gesäumten, schattigen Veranda saß ein älterer Mann, dessen auffälligstes Merkmal neben seiner gepflegten, absolut perfekt sitzenden Kleidung ein mächtiger Zinken von Nase in einem hohen, schmalen Gesicht war. Trotz der tropischen Temperatur trug er Weste und Hemd vorbildlich geschlossen, nur auf das Jackett seines Anzugs hatte er verzichtet. Manschettenknöpfe blitzten auf dem blütenweißen Stoff der Hemdsärmel, und die burgunderfarben getüpfelte, im Grundton braune Fliege saß exakt horizontal. Der Mann studierte die Inhalte einiger Mappen aus dünnem Karton, die vor ihm in zwei Stapeln auf dem Tisch lagen; von dem einen nahm er sie herunter, auf den anderen legte er sie weg. Obwohl diese Mappen in tadellosem, sauberem Zustand waren, wirkten sie in dieser Umgebung staubig und deplatziert. Daneben standen einige Gläser und eine Karaffe auf dem Tisch, deren kristallklarer Inhalt kalt genug war, um sie beschlagen zu lassen.
William Edward Francis Carnavaughn hatte sich im Laufe seines langen Arbeitslebens angewöhnt, sich nach dem Lunch beim Studium von Geheimdienstdossiers auszuruhen, und von dieser Gewohnheit wollte er auch im Ruhestand nicht lassen. Anstelle von geheimdienstlichen Einschätzungen und Bulletins las er nun allerdings Berichte von den Unternehmungen der Carnavaughns, ob hier in Ägypten oder sonst wo auf der Welt. Dieses Material stellte Elroy für ihn zusammen, der Majordomus und Privatsekretär. Und weil William ein traditionsbewusster Mensch war, bestand er darauf, dieses Material in den gewohnten braunen Pappmappen vorgelegt zu bekommen.
Er hob kaum den Kopf, als ein zweiter Mann durch die Schiebetür, die er hinter sich wieder schloss, auf die Veranda trat, aber seine Mundwinkel zuckten missbilligend, als er registrierte, dass der Ankömmling lediglich mit Boxershorts und einem zerknitterten T-Shirt bekleidet war. Der Anblick der nackten Beine und Füße irritierte William, und er blickte schnell wieder in seine Mappe, sagte jedoch nichts. Er wollte sich nicht erneut den Vorwurf anhören, altmodisch und verknöchert zu sein.
„Guten Morgen, Vater“, sagte der Ankömmling.
„Guten Tag, Charles.“
Charles Edward Francis Carnavaughn ging auf die Kritik nicht ein, die in dieser Begrüßung unverhohlen mitschwang, sondern machte ein paar unbeholfene Klimmzüge am Verandadach und reckte ausgiebig seine schlaksige, jungenhafte Gestalt. Der junge Mann, der vielleicht einmal den klangvollen Titel des Lord Carnavaughn führen würde, war erst 29 Jahre alt. William war spät Vater geworden, und lange Zeit hatte es so ausgesehen, als ob es nie klappen würde. Charles war sein einziges Kind.
Der junge Carnavaughn schenkte kühles Wasser aus der Karaffe in ein Glas, ließ sich auf einen der freien Stühle am Tisch sinken und legte seine Füße auf die Sitzfläche eines anderen Stuhls. Das blonde Haar hing ihm wirr in die Stirn, ohne dass er etwas dagegen unternahm. Während er trank, blickte er seinen Vater über den Rand des Glases aus seinen grünen Augen an, den Augen seiner toten Mutter, doch er sagte nichts.
„Ist Serafina gegangen?“, fragte William betont nebensächlich, ohne von der Mappe aufzusehen, deren Inhalt er gerade studierte.
„Das ist ein bisschen blöd gelaufen“, antwortete Charles. „Kurz nachdem sie abgereist war, wurde in Abydos etwas entdeckt. Sag mal, was war dieser Sethos für ein Typ?“
William hob den Blick und sah seinen Sohn überrascht an.
„Typ?“
„War das einer, der klar heraus sagt, was er denkt, oder einer, der einem frech ins Gesicht lügt und hinterher Intrigen spinnt?“
William räusperte sich und nahm diese starre Haltung an, die Charles so an ihm hasste und zugleich bewunderte, diese Haltung, in der William zahllose diplomatische Schlachten für Liz und das Vereinigte Königreich geschlagen hatte. Immerhin legte er die Mappe beiseite.
„Charles, was ist passiert?“
„Bisher noch nicht viel. Serafina war nicht vor Ort, und Bill ist aus dem Häuschen.“
„Es muss schon einiges passieren, damit Bill aus dem Häuschen gerät“, versetzte William, „und bis du mich nach Sethos fragst.“
„Na ja, das sind alte Geschichten, oder? Aber wenn Bill sagt, dass der irre George vielleicht doch recht hatte, dann klingt das interessant, und wenn etwas interessant klingt, fange ich an, mich damit zu beschäftigen. Außerdem sagt Bill nichts ohne Grund, das weißt du genau.“
„Bill hat gesagt, dass George vielleicht doch recht hatte?“
„Ja.“
„Und wieso erzählt er dir das und nicht mir?“
„Weil ich ihn am Telefon hatte, während du hier deine Geheimdienstberichte gelesen hast“, antwortete Charles schnippisch.
„Elroy!“, rief William so laut, dass die Grillen im Garten für Sekunden aufhörten zu zirpen.
„Lass Elroy aus dem Spiel. Er kann nichts dafür. Ich habe ihm das Telefon abgenommen, er konnte gar nichts machen. Es ist auch gar nichts Dramatisches geschehen. Bill hat in Abydos irgendwelche alten Papyri gefunden, aus denen hervorzugehen scheint, dass es dort einen Totenkult für Sethos gegeben hat, und das irritiert ihn. Er meint, das dürfte nicht sein. Nun weiß ich aber ziemlich genau, dass es in Abydos einen Totentempel des Sethos gibt, denn eine gewisse Firma mit dem bescheuerten Namen Deep Dry , deren Geschäftsführer ich pro forma seit einem Monat bin, wird in eben diesem Totentempel bald Grundwasser absaugen. Und was wäre ein Totentempel ohne Totenkult, nicht wahr?“
„Ich glaube, ich rufe Bill lieber persönlich an“, erwiderte William misstrauisch, „und höre mir das aus erster Hand an. Deine Zusammenfassung befriedigt mich nicht.“
„Bitte sehr. Elroy!“
„Sie haben gerufen?“
„Das ist korrekt“, sagte Charles in gedehntem Tonfall, seinen Vater parodierend, als Elroy zu ihnen auf die Veranda trat.
Der Majordomus der Carnavaughns war ein schlanker, feingliedriger Waliser mit zurückweichendem Haar und einem gepflegten Schnauzbart. Seit fünfzehn Jahren hielt er den Betrieb der Residenz in Luxor in all seinen Facetten aufrecht, und damit hatte er eine Menge zu tun. Das Personal, das er zu überwachen und dessen Einsatz er zu planen hatte, umfasste zehn Köpfe, vom Küchenjungen bis zu den Wissenschaftlern im Labor. Als Williams Sekretär sortierte und beantwortete er außerdem dessen gesamte Korrespondenz, auch die der Carnavaughn-Stiftung. Einen ganz speziellen Blick hatte er darauf, dass das Zimmer im ersten Stock, in dem vor 180 Jahren ein schottischer Abenteurer und Landschaftsmaler namens Robert Hays ermordet worden war, sorgfältig verschlossen blieb. So verlangte es die Familientradition und das Vermächtnis von George Carnavaughn: Der Tatort sollte verschlossen bleiben und erst wieder betreten werden, wenn Methoden zur Verfügung standen, mit deren Hilfe der Mord aufgeklärt werden konnte. Die Leidenschaft, mit der die Carnavaughns diese Aufklärung betrieben, hatte allerdings nach Georges Tod beträchtlich nachgelassen, und für William und Charles war der Mord an Robert Hays nur noch eine dieser Geschichten, an denen ihre Familie so reich war und die mit ihnen persönlich nicht sonderlich viel zu tun hatten. Allerdings gab es da oben im ersten Stock tatsächlich dies verschlossene Zimmer, und jedes Mal, wenn sie daran vorbeigingen, erinnerten sie sich daran, was unter dem Dach dieses Hauses damals vorgefallen war. Trotzdem hatten weder William noch Charles sich jemals ernsthaft gefragt, ob inzwischen die Methoden zur Verfügung standen, auf die George gehofft hatte.
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