Die Menschen lachten und studierten Theos hübschen Kopf, obwohl sie ihm natürlich nicht glaubten. Theo erzählte ihnen etwas über altägyptische Medizin und wie den Toten das Gehirn beim Mumifizieren durch die Nase herausgezogen werden musste, während er die Leute Richtung Osireion leitete, und das war gruselig genug, um sie abzulenken.
2. Kapitel
Sethos-Tempel, Abydos
2. März 2014, 11 Uhr
Zum ersten Mal spulte Theo zum Schluss einer Führung einfach nur sein Programm ab. Er ärgerte sich über sich selbst, denn die letzte Station, das rätselhafte Osireion, war eigentlich der Höhepunkt der Führung. Die einen sagten, es handle sich um das Scheingrab des Sethos, während die anderen meinten, es mit einem Tempel zu tun zu haben, der älter war als der des Sethos, und es gab sogar Leute, die die Auffassung vertraten, das Osireion sei das Grab des Gottes Osiris selbst, denn angeblich sei hier einst sein Schädel bestattet gewesen. Doch Theo war mit dem Kopf völlig bei dem Felsspalt und der lockeren Steinplatte, ob er wollte oder nicht. Es war das erste Mal, dass er womöglich Zeuge einer archäologischen Entdeckung wurde, und er musste unbedingt dabei sein, wenn Bill Sheridan die Platte entfernte.
Was mochte sich darunter verbergen? Ein Zugang zu unterirdischen Gewölben? Dann dürften die Deep Dry -Leute gleich mal zeigen, was sie konnten, denn solche Gewölbe wären vermutlich voller Wasser. Ein Statuen-Depot wie damals im Tempel von Karnak? Oder vielleicht nur das geheime Versteck eines Tempelnovizen, in dem er das altägyptische Pendant von Murmeln vor seinen gestrengen Lehrern versteckt hatte? Selbst das wäre ein interessanter Fund, der Einblicke geben konnte in Lebensgewohnheiten jener Zeit.
Und wenn dort ein Schatz liegt? Goldschmuck, Edelsteine?
Auch solche Funde hatte es schon gegeben.
Obwohl er abgelenkt war, brachte Theo die Führung zu einem leidlich guten Ende. Jetzt noch rasch die abschließende Fragerunde, bei der er diesmal allerdings nur knappe Antworten gab – gerade so viel, wie nötig war. Doch offenbar hatte er alle Bedürfnisse ausreichend befriedigt, denn sein Trinkgeld bewegte sich im normalen Rahmen. Gratis obendrauf schenkte ihm die schöne Touristin, die er vorhin so unangemessen angestarrt hatte, ein ziemlich anzügliches Lächeln, als er die Leute am Bus wieder in die Gegenwart entließ.
Theo traf gerade rechtzeitig wieder beim Osireion ein, um auf Bill Sheridan zu stoßen.
„Gute Reaktion“, sagte Bill anerkennend, als Theo ihm den Spalt zeigte. „Es war genau richtig, mich zu holen. So eine Fundstelle muss sofort gesichert werden. So was spricht sich immer schnell herum, und ehe man es sich versieht, sind Plünderer dagewesen.“
Ramadan und seine Männer waren schon bei ihnen. Bill hatte die beiden Studenten mitgebracht, die bei ihm ihr Grabungspraktikum leisteten, Fred und Sonja. Theo kannte beide von der Bar des Osiris. Fred war ein lustiger, etwas linkischer Bursche, und auf Sonja hatte Theo mehr als nur einen Blick geworfen, auch wenn er sie etwas jung fand. Doch jetzt galt seine ganze Aufmerksamkeit dieser Fuge zwischen den Steinplatten und nicht Sonjas ausgeprägten Kurven.
Bill Sheridan war ein Mann von 72 Jahren und verfügte über jene enorme Ausstrahlung, die nur ein langes, tatkräftiges und erfolgreiches Leben verlieh. Theo überragte ihn zwar um einen halben Kopf, aber er fühlte sich dennoch klein neben diesem drahtigen Energiebündel. Bills gebräuntes Gesicht war gezeichnet von tief eingeschnittenen Falten unter einer auffallend hohen Stirn. Bei der Arbeit trug er stets eine Baseballkappe mit ihren Salzrändern, die mit dem Schweiß im Material der Kappe aufgestiegen waren wie Wasser in den Kapillaren der Granitpfeiler unten im Osireion. Aus Bills durchgeschwitztem, staubigem Hemdkragen lugte ein faltiger Hals, und auch die übergroßen Ohren wiesen deutlich auf sein Alter hin, doch seine graublauen Augen blitzten Theo klar und mit jugendlichem Schwung an.
Archäologen-Urgestein.
Nirgendwo sonst kam man so umstandslos an Menschen heran wie an einer Bar – und besonders gut funktionierte es, wenn man selbst hinter der Bar stand. Beim leidlich guten Whisky des Osiris hatte Bill genug von seiner Arbeit erzählt, um Theo mit tiefem Respekt vor dem Archäologen zu erfüllen. Bill grub seit zwanzig Jahren für Luxor Archaelogical Research, einem der ältesten Forschungsinstitute der Ägyptologie, das auf eine Tradition von mehr als 150 Jahren zurückblicken konnte. Finanziert wurde es von einer Stiftung der Carnavaughns, einer legendären englischen Adelssippe, die viele Berühmtheiten hervorgebracht hatte: Nobelpreisträger, Unternehmer, Forscher, Weltumsegler, Sportler, Erzbischöfe und sogar einen bekannten Schriftsteller. Sie galten als Philanthropen, und die Ägyptologie war seit eineinhalb Jahrhunderten ihr Steckenpferd – oder zumindest das Steckenpferd einiger von ihnen. Theo hatte sich damals, bevor er das Studium geschmissen hatte, unter anderem bei Luxor Archaeological Research für ein Grabungspraktikum in Ägypten beworben, denn dieses Institut galt als besonders aufgeschlossen für Studierende anderer Nationen – was Theo jetzt dadurch bestätigt fand, dass zwei junge Deutsche begehrte Praktikantenplätze bei einer Grabung dieses Instituts bekommen hatten.
Wenn er doch nur mehr Disziplin im Leib gehabt hätte! Wenn er die Mühlen des verschulten Studiums irgendwie durchgestanden hätte, würde er heute sicher ein Leben führen wie Bill und auf dem Sprung sein, ein renommierter Archäologe zu werden.
Umso mehr freute ihn das Lob aus Bills Mund.
„Das war doch selbstverständlich“, antwortete Theo. „Ich frage mich, wie die Leiterin ihre Leute hier allein lassen konnte.“
„Serafina?“ Bill musterte ihn, als habe er etwas Falsches gesagt. „Sie musste nach Luxor.“
Er kennt diese Serafina?
„Es mag unüblich sein, dass eine Grabungsleiterin sich von ihrer Grabung entfernt“, fuhr Bill fort, „aber ich finde es verzeihlich. Niemand konnte erwarten, hier noch auf etwas zu stoßen. Das Tempelareal ist um 1900 schon einmal ausgegraben worden.“
Theo überlegte, ob er widersprechen sollte, denn es gab genügend Geschichten aus Ägypten, in denen unerwartet Entdeckungen gemacht worden waren. Er fand das Verhalten der Grabungsleiterin alles andere als verzeihlich, und er wunderte sich, dass Bill sie verteidigte. Trotzdem hielt er den Mund.
Nachdenklich stand Bill vor dem Spalt. Die Blicke seiner Leute wanderten zwischen ihm und dem Spalt hin und her, auch Theo wusste in seiner Ungeduld nicht, wohin er sehen sollte. Er zwinkerte Sonja zu, der Praktikantin, als er bemerkte, dass sie ihn beobachtete, und sie zwinkerte zurück.
„Ramadan“, sagte Bill zum Vorarbeiter von Deep Dry , „ihr habt das Gelände sondiert. Irgendwelche Funde außer dem hier?“
„Nichts“, antwortete der Ägypter. „Wir haben haufenweise angewehten Sand weggeschafft, aber darin war nichts von Interesse.“
„Okay, dann wollen wir mal. Fred, was ist jetzt erste Entdeckerpflicht?“
„Fundort dokumentieren“, antwortete der Student wie aus der Pistole geschossen.
Bill zückte sein Smartphone und ließ seine Finger flink über das Display huschen. Dann legte er das Gerät neben den Spalt auf den Boden und berührte eines der Symbole auf dem Bildschirm. Eine Sekunde später hob er das Smartphone wieder auf.
„Wir haben jetzt die genauen GPS-Koordinaten des Spalts“, sagte er mit einem schrägen Blick zum Himmel, als könne er den Satelliten sehen, der das Signal aufgenommen hatte, „und hiermit …“ – erneut wirbelten seine Finger über das Display – „… wurden die Koordinaten auf die Karte des Abydos Mapping Project übertragen.“
Nachdem die Position des Spalts genau dokumentiert war, ging es daran, ihn zu fotografieren. Bill legte einen Zollstock an, und Sonja, die Studentin, schoss Fotos aus verschiedenen Richtungen wie am Tatort eines Verbrechens. Auch diese Bilder würden später in die Datenbank des AMP übertragen werden.
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