1 ...6 7 8 10 11 12 ...22 Vorbild für das Abydos Mapping Project war das Theban Mapping Project, in dem alle verfügbaren Daten über das Tal der Könige zu einer digitalen Karte verarbeitet worden waren. All diese Daten waren über das Internet verfügbar, die ganze Welt konnte darauf zugreifen. Zahlreiche Wissenschaftler fügten Wissenschnippsel und Einzelerkenntnisse hinzu, und so war im Lauf von bald zwanzig Jahren eine einzigartige Datenbank entstanden. Nie zuvor war es so einfach gewesen, sich auf den neuesten Stand des Wissens zu bringen – und noch nie waren die Wissenslücken derart offensichtlich zu Tage getreten. Luxor Archaelogical Research hatte etwas Ähnliches für Abydos vor, aber das Projekt steckte noch in den Kinderschuhen und war bisher nicht veröffentlicht. Theo hätte es sich sonst natürlich längst angesehen.
Bill ging auf die Knie, zog einen Pinsel aus einer der Taschen seiner Cargo-Hose und begann, Staub und Sand aus den Fugen zu fegen, die links und rechts vom Spalt im rechten Winkel von ihm fortführten. Sonja und Fred halfen ihm mit eigenen Pinseln, alle Fugen im Umkreis des Spalts freizulegen. Ungeduldig sah Theo ihnen zu. Konnten sie nicht etwas schneller pinseln?
Schließlich war Bill zufrieden.
„Das ist unser Kandidat“, sagte er und klopfte mit dem Knöchel des Zeigefingers auf die große, von der Sonne erwärmte Steinplatte, deren Abmessungen sie mit ihren Pinseln erkundet hatten. „Ramadan – die Stemmeisen bitte!“
Der Vorarbeiter reichte ihm eines der Stemmeisen, die er geistesgegenwärtig bereitgehalten hatte. Bill stieß die stählerne Zunge auf die Steinplatte hinab. Außer dem Geräusch, das entstand, wenn Stahl auf Stein kratzte, war ein leiser, dumpfer Nachhall zu hören.
„Darunter ist ein Hohlraum“, stellte Bill fest und reichte Theo eines der Stemmeisen. „Da sind kräftige Männer gefragt. Willst du die Ehre haben?“
Natürlich wollte Theo! Er legte seinen Rucksack ab, in dem sich die Wasservorräte für seine Touristen befanden, und setzte sein Stemmeisen am Ende des Spalts an. Bill am anderen Ende, Ramadan in der Mitte. Es knirschte leise, als der Stahl zwischen die uralten Steinplatten glitt. Theo klopfte das Herz bis zum Hals. Bill hingegen wirkte völlig gelassen, als habe er so was schon Dutzende Male erlebt.
Die Steinplatte knirschte und knurrte in den Fugen, als die drei Männer sich ins Zeug legten, und langsam, sehr langsam begann sie, sich aus dem Rahmen zu heben, in dem sie wahrscheinlich jahrtausendelang gelegen hatte. Theo brach der Schweiß aus, während auf Bills Stirn nicht ein Tropfen zu sehen war.
Sie hebelten die Platte so weit in die Höhe, dass die Arbeiter Holzkeile drunterschieben konnten, für die der vorausschauende Ramadan gesorgt hatte. Das verschaffte ihnen eine Atempause. Dann stemmten sie erneut, und nun packten die Arbeiter zu und schoben die Platte mit vereinten Kräften zur Seite auf den Boden des Tempelareals.
Theos schwitzte mehr vor Aufregung als vor Anstrengung. Er zog eine Wasserflasche aus seinem Rucksack und bot sie Bill an. Der Archäologe nahm sie, schraubte sie gemächlich auf und trank, während er mit Blicken die Kammer sondierte, die sich vor ihren Füßen aufgetan hatte. Dann reichte er die Flasche an Theo zurück und schob sich die Baseballkappe in den Nacken. Erleichtert registrierte Theo die Schweißtröpfchen, die nun doch auf Bills Stirn erschienen waren und die in der trockenen Luft so schnell verschwanden, dass man ihnen beim Verdunsten zusehen konnte.
Auch Theo löschte seinen Durst, während Sonja die Kammer und ihren Inhalt fotografierte. Die Mittagssonne schien in das Gelass, eine einfache Grube von vielleicht achtzig mal achtzig Zentimetern. Ihr Boden war unter zahllosen Tonscherben nicht zu erkennen, so dass unklar blieb, wie tief sie war. Oben auf der Scherbenschicht lagen zwei Tonkrüge, die unversehrt wirkten. Ein dritter, der zum Teil in der Schicht aus Scherben steckte, wies bei genauerem Hinsehen Sprünge auf.
„Das sieht nicht gerade nach einem goldenen Grabschatz aus“, sagte Sonja. Sie klang enttäuscht.
„Niemand hat erwartet, ein Grab zu finden“, erwiderte Bill. „Nicht hier. Das ist der Tempelbezirk, der zu Sethos‘ Totentempel gehörte. Hier bestattete man keine Toten, sondern hier verwaltete und gewährleistete man ihre Verehrung. Du musst dir diese Tempel ungefähr wie mittelalterliche Klöster vorstellen. Sie waren wichtige Faktoren in der damaligen Wirtschaft, sie besaßen Felder und Dattelhaine, hatten Werkstätten, Backstuben, Braueieren, Apotheken, Gärten für Heilkräuter, Schreibstuben, Magazine und Depots, und das alles war von einer hohen Umfassungsmauer umgeben. Ein ganzer Haufen Priester hat hier abgeschieden von der Welt gelebt und gearbeitet. Und einer dieser Herren scheint uns etwas ziemlich Interessantes hinterlassen zu haben …“
Bill ging auf die Knie und spähte in die Grube, als könne er das Geheimnis der Tonkrüge erfassen, indem er sie aus größerer Nähe betrachtete.
„Sonja, wenn das hier kein Grab ist – was ist es dann?“
„Sieht aus wie ein Depot von Tonkrügen“, antwortete die Studentin.
Theo lachte leise. Sonja hatte nur das Offensichtliche ausgesprochen. Sie sandte ihm dafür einen erbosten Blick.
Bill war Theos Lachen nicht entgangen.
„Und du, Theo, was meinst du?“
Bin ich jetzt zum Praktikanten aufgerückt?
„Sonja hat recht“, antwortete Theo und zwinkerte Sonja versöhnlich zu, „aber die eigentlich interessante Frage ist nicht die, was es ist, sondern die, warum es hier ist – unter einer Steinplatte verborgen, als ob es versteckt worden wäre.“
„Interessanter Gedanke“, kommentierte Bill. „Wir haben es hier also mit einem ziemlich spannenden Fund zu tun. Irgendjemand wollte etwas verstecken, was seiner Meinung nach nicht in die Archive und Magazine des Tempels gehörte. Das wirft Fragen auf: Vor wem wollte er es verstecken? Warum hat er es im Innern des Tempelbezirks versteckt und nicht irgendwo draußen in der Wüste?“
„Warum sollte jemand Scherben verstecken?“, fragte Fred und deutete in die Grube hinab. „Ich sehe zwei Krüge und sonst nichts als Scherben …“
„ Heute sind das Scherben“, antwortete Bill, dem nicht anzumerken war, ob er Freds Einwand dumm oder intelligent fand. „Damals, vor mehr als dreitausend Jahren, waren das mit Sicherheit keine Scherben, sondern intakte Krüge.“
„Und warum sind sie jetzt kaputt?“
„Dafür kann es viele Gründe geben. Dreitausend Jahre sind eine lange Zeit. Der größte Schädling für Altertümer, egal ob für kleine Tonkrüge oder hohe Tempelsäulen, ist und bleibt Wasser. Selbst hier in Abydos regnet es manchmal, und das Regenwasser könnte sich in dieser Grube gesammelt haben. Was passiert mit Tonkrügen, die im Wasser liegen?“
Sie verrotten. Und die tiefer liegenden Reste bilden mit der Zeit eine Art natürliche Drainage für die Krüge, die oben liegen.
„Die im Dunkeln sieht man nicht“, murmelte Theo, ohne selbst auf Anhieb sagen zu können, woher ihm diese Worte auf die Zunge sickerten. Doch dann erinnerte er sich wieder.
Brecht, Dreigroschenoper.
Theo grinste, weil seine Assoziation nicht auf Tonscherben zu passen schien.
Bill klatschte in die Hände.
„Das Detektivspiel beginnt, nachdem der Tatort gesichert ist. Achtung …“
Er griff in die Grube und zog einen der beiden unversehrten Tonkrüge heraus. Das bauchige Gefäß hatte etwa die Größe eines Handballs. Es handelte sich um ein schmuckloses Gebrauchsgefäß – nichts Besonderes, Massenware jener Zeit. Bill untersuchte es von allen Seiten.
„Wahrscheinlich ein tempeleigenes Produkt“, überlegte er.
Dann stellte er den Krug vor sich auf den Boden, blickte hinein und runzelte die Stirn. Aus einer seiner Taschen zog er eine LED-Leuchte, die kaum dicker und länger war als ein Kugelschreiber, und leuchtete in den Tonkrug. Die Praktikanten, Theo und die Arbeiter scharten sich enger um Bill, damit ihnen ja nichts von dem entging, was Bill entdeckte. Der Archäologe ließ sie nicht lange im Unklaren.
Читать дальше