„So wie auch Sethos nur an den einen Gott glaubte: sich selbst. Schließlich war er Gottkönig! Trotzdem gibt es hier sechs Altäre neben dem für Sethos selbst. Wir stehen hier gerade zufällig vor seinem eigenen Altar.“
Im Halbdunkel der Tempelhalle lief den Menschen ein Schauer den Rücken hinab, während Theo auf die Kapelle des Sethos und ihren Altar wies. Die Menschen fühlten sich klein zwischen den gewaltigen, einem Dutzend Meter hohen Säulen – und das fühlte sich anders an als zwischen den dreißig oder gar vierzig Meter hohen Säulen einer gotischen Kathedrale, schon allein deswegen, weil alle wussten, dass die Säulen des Sethos mehr als zweitausend Jahre länger hier standen als die frühesten gotischen Säulen. Länger sogar, als es das Christentum insgesamt gab.
„Ich habe Ihnen gerade etwas vorgeflunkert“, fuhr Theo fort, als kein Einwand kam. Dies war eine leichte Reisegruppe. „Der Gedanke, man müsse vor allem an sich selbst glauben, um es zu etwas zu bringen, hat zwar sicher auch im alten Ägypten schon Anhänger gehabt, aber tatsächlich glaubte Sethos zumindest offiziell auch an Amun, schon aus Gründen der Staatsräson, denn Amun war der Reichsgott. Außerdem glaubte Sethos wie jeder Ägypter an Osiris, den Herrn der Unterwelt, dessen Kultzentrum Abydos ist und der hier im Tempel auch einen Altar hat – und zwar direkt neben dem Staatsgott Amun.“
Theo ließ Geschichten über Geschichten folgen, während er seine Gruppe durch die Tempelhalle führte. Dann lotste er sie durch ein unauffälliges Portal neben dem Sethos-Sanktuar in einen langen Gang und lenkte ihre Blicke auf ein Relief, das Sethos und seinen Sohn Ramses vor einer unendlich scheinenden Liste von Namenskartuschen zeigte – die Königsliste von Abydos. 76 Pharaonen waren da gelistet, 1800 Jahre ägyptischer Herrschaft.
Anschließend ging es hinaus aus dem Tempel auf das rückwärtige Gelände, hinaus zum Osireion im hinteren Teil des Tempelbezirks.
Schon während Theo die Treppe zum tiefer liegenden Gelände hinter dem Tempel hinabstieg, sah er, dass etwas nicht stimmte.
Seit einigen Tagen waren hier Arbeiter unterwegs, die den Bereich um das Osireion für den Einsatz einer Ingenieursfirma vorbereiteten. Die Leute von Deep Dry sollten eine Anlage installieren, die rund um das Osireion Grundwasser abpumpte und so den Wasserspiegel im Bauwerk regulierte. Darin lag eine gewisse Komik, denn normalerweise hing in Ägypten alles davon ab, Felder, Plantagen und Haine zu be -wässern. Aber das Osireion war kein Hain, sondern eine künstliche Gruft, ein dreitausend Jahre altes architektonisches Wunderwerk, das unter dem steigenden Grundwasserspiegel litt. Die Deep Dry -Ingenieure sollten dieses Problem eindämmen und das Osireion retten, bevor das Wasser in den Kapillaren der Säulen und Mauern noch mehr Schäden anrichtete.
Doch von der Inbetriebnahme war man weit entfernt. Zuerst musste das Areal nach allen Regeln der Kunst erkundet und gesichert werden, um festzustellen, wo gebohrt werden konnte, damit keine verborgenen Artefakte beschädigt wurden. Das bedeutete, dass Massen von Sand und Schutt weggeschafft werden mussten, die sich in den Jahrzehnten seit der Freilegung des Tempels wieder angesammelt hatten.
Theo berichtete seiner Reisegruppe von diesem Projekt, während er zugleich aus den Augenwinkeln registrierte, dass die Arbeiter nicht etwa Sand und Schutt forttrugen, wie sie es während der vergangenen Tage getan hatten. Vielmehr hatten sie sich an einer Stelle des Tempelareals, die vielleicht dreißig Meter vom Osireion in der Nähe der alten Umfassungsmauer entfernt lag, zusammengefunden und starrten auf etwas am Boden.
Theo beschleunigte seinen Schritt. Er sah keinen Aufseher, keinen ihm bekannten Archäologen, nur die Arbeiter. Sie scharrten im Grund. Er wandte sich an seine Reisegruppe:
„Warten Sie bitte einen Moment.“
Dann eilte er zu den Arbeitern hinüber. Die Männer kannten ihn natürlich und machten ihm unsicher Platz. Dort im Boden, auf den sie starrten, war deutlich ein Spalt zwischen den steinernen Platten zu sehen. Er war vielleicht einen halben Zentimeter breit und einen Meter lang, und seine Ränder waren gerade, wie mit dem Lineal gezogen. Ordentliche Steinmetzarbeit.
Eine Deckplatte! , durchzuckte es Theo. Auch wenn er, der Studienabbrecher, dergleichen nie mit eigenen Augen gesehen hatte, war er Archäologe genug, um zu erkennen, was das bedeutete: Unter den Steinplatten befand sich ein Hohlraum!
„Sabach el-Nur“, grüßte Theo etwas verspätet. „Wer ist hier der leitende Archäologe?“
„Sabach el-Cheir“, erwiderte einer aus der Gruppe, ein drahtiger Ägypter in staubigen Jeans und dreckigem T-Shirt. „Ich bin der Vorarbeiter.“
Theo entschuldigte sich wortreich, wie es im Arabischen üblich war, denn er hatte Ramadan, staubig wie er war, kaum wiedererkannt. Dabei hatte Theo sich erst vorgestern nach einer Führung ausführlich mit ihm unterhalten. Daher wusste er ja alles über das Deep Dry –Projekt. Aber warum war kein Archäologe anwesend? Die Leute bewegten Sand und Schutt innerhalb der Umfassungsmauern eines bedeutenden Tempelareals – ohne die Aufsicht eines Fachmanns?
„Niemand darf diesen Spalt anrühren, wenn kein Archäologe dabei ist“, sagte Theo. „Sonst gibt es nur Ärger mit der Altertümerverwaltung.“
„Serafina hat gesagt, sie ist gleich wieder da“, gab Ramadan achselzuckend zurück. „Das war vor drei Stunden. Ich habe schon versucht, sie anzurufen, aber das Telefon ist abgeschaltet.“
Theo hatte keine Ahnung, von wem der Vorarbeiter sprach. Einer Archäologin namens Serafina war er bisher nicht begegnet.
„Dann müsst ihr entweder warten oder jemand anderen holen.“ Theo hatte eine Idee. Es war zwar nicht eilig, aber er war neugierig darauf, was sich unter der Steinplatte verbarg. „Wie wäre es, wenn ihr Bill Sheridan anruft? Von der Cheti-Grabung. Die sind nur einen halben Kilometer weit weg.“
Für einen Moment spielte Theo mit dem Gedanken, die Sache selbst zu übernehmen. Er konnte das, davon war er überzeugt, aber er schreckte vor der Verantwortung zurück. Mit den Typen von der Altertümerverwaltung wollte er nichts zu tun haben. Er hatte sie einmal in Aktion erlebt, und das genügte. Wenn bei einer Grabung nicht alles genau nach den Regeln ablief, die durch die Behörde festgelegt waren, dann konnten diese Leute wirklich unangenehm werden. Theo war kein Archäologe, er hatte keinen Abschluss vorzuweisen. Unter dieser Steinplatte konnte sonst was sein. Eine ähnliche Steinplatte hatte im Tempel von Karnak bei Luxor ein Depot von sechshundert Statuen abgedeckt, von denen etliche seitdem zu den bedeutendsten Kunstwerken des alten Ägyptens zählten.
„Bill Sheridan, natürlich“, sagte Ramadan. „Ich rufe ihn an.“
„Lass nur“, erwiderte Theo und zog sein Handy hervor. „Ich mache das schon.“
Er kannte Bill von der Bar des Osiris , und es brauchte kaum drei Worte, um den Archäologen dazu zu bewegen, beim Osireion vorbeizuschauen.
„Ihr dürft hier nichts anrühren“, schärfte Theo Ramadan und den Arbeitern noch einmal ein. „Macht am besten in der gegenüberliegenden Ecke des Geländes weiter, bis Bill kommt. Ich muss zu meiner Reisegruppe zurück.“
Die Leute reckten schon die Köpfe, und einige kamen gerade näher und wollten sehen, was da los war. Theo fing sie wieder ein, und mit dem gewinnendsten Lächeln, zu dem er fähig war, sagte er:
„Die Arbeiter sind auf eine lose Steinplatte gestoßen. Das kommt in Ägypten alle paar Sekunden vor. Vielleicht lesen Sie zu Hause bald etwas über einen sensationellen Fund, aber wahrscheinlich ist es einfach nur eine lose Steinplatte. Habe ich Ihnen schon erzählt, wie mir in meiner Wohnung in Berlin mal eine Wandkachel auf den Kopf gefallen ist, während ich auf dem Klo saß? Das musste genäht werden.“
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