Aber dann war da die Sache mit Rebekkas Anruf, den Ilona belauschte. Diesen einen Seitensprung musste er notgedrungen gestehen. Er beteuerte, dass er ihr im Kopf niemals untreu gewesen sei, nur eben mit dem Schwanz, aber das besänftigte sie nicht, ebenso wenig wie sein letzter Rechtfertigungsversuch:
„Wir schlafen schon lange nicht mehr miteinander.“
„Aha, jetzt bin ich natürlich schuld!“
Ilona hatte wohl schon länger genug von dieser Lebensweise und hatte es nur nicht gesagt. Umso plötzlicher fand sich Theo vor der Tür ihrer bis dahin gemeinsamen Wohnung wieder. Nicht zu Unrecht, wie er sich selbst gestand. Vielleicht war es besser so. Er war eben kein Mann für eine feste Bindung. Wahrscheinlich hatte er Ilona und sich lediglich zwei Jahre lang etwas vorgespielt. Jetzt war er frei und konnte machen, was er wollte.
Theo, der Ficker.
Er wäre ein guter Pharao gewesen.
Doch Ilona fehlte ihm. Der Job machte ihm plötzlich keinen Spaß mehr, ebenso wenig die Frauen. Außerdem musste er sich eine eigene Wohnung besorgen. Das hatte er noch nie getan, er war immer in irgendwelchen Wohngemeinschaften untergekommen. Doch mit Mitte dreißig war das nicht mehr ganz so einfach. Zunächst schlüpfte er bei Kollegen unter, die ihm allerdings bald klarmachten, dass sie keinen Dauer-Untermieter wünschten.
Eine Wohnung mieten!
Das vermeintlich freie Leben wurde anstrengend.
Heidrun war eine dieser Frauen, die nichts Verbindliches suchten, nur eine schöne Nacht, doch sie brachte ihn auf eine Idee. Sie leitete Reisegruppen. Weil sie oft wochenlang irgendwo auf der Welt unterwegs war, unterhielt sie in Berlin nur ein kleines, billiges, leicht verwahrlostes Apartment, ihren Anker in all der Herumflitzerei. Sie war gebildet, umgänglich und abenteuerlustig, und sie konnte organisieren und improvisieren – ein Talent, über das jeder Reiseleiter verfügen musste, da auf solchen Reisen offenbar ständig unvorhergesehene Probleme auftraten konnten.
Das gefiel Theo, das traute er sich ebenfalls zu. Also schrieb er Mails und verschickte Bewerbungen, die er signierte mit „Theodor Magenheim, Archäologe“. Wenige Tage später bekam er tatsächlich einen Anruf: Ob er sich mit dem alten Ägypten auskenne? Aber sicher!
Das war keineswegs gelogen. Er war zwar nur einmal persönlich in Ägypten gewesen, hatte aber alles über die alte Hochkultur am Nil gelesen, dessen er hatte habhaft werden können. Das alte Ägypten faszinierte ihn seit seiner Kindheit. Diese Leidenschaft hatte ihn auch dazu bewegt, sich für Archäologie an der Uni einzuschreiben, doch schon bald wurde ihm das Studium zu systematisch, zu verschult und zu eng – wie dazu geschaffen, ihm alle Begeisterung auszutreiben. Enge konnte er auf den Tod nicht ausstehen. Damals hatte er noch versucht, einen Platz als Praktikant bei einer Grabung im Nildelta zu bekommen. Vielleicht hätte die direkte Begegnung mit dem alten Ägypten sein Studium gerettet. Doch die Praktikumsplätze waren rar, es klappte nicht. Stattdessen ein Angebot für eine Kelten-Grabung im Kreis Sigmaringen. Da brach Theo das Studium ab.
Dennoch las er weiterhin alles über Ägypten und häufte Wissen an – sinnloses Wissen, hätte sein Vater gesagt, wenn er noch leben würde. Denn wozu brauchte Theo dieses Wissen?
Lern etwas Vernünftiges, Junge!, hörte Theo den Alten sagen. Doch Theo konnte und wollte nicht anders. Das alte Ägypten faszinierte ihn weiterhin.
„Es ist wohl eine Art von Inselbegabung.“
Mit diesen Worten hatte ihm Ilona etwa zur Halbzeit ihrer Beziehung zu verstehen gegeben, dass sie Theos Leidenschaft nun resigniert zu akzeptieren gedachte – was natürlich, typisch Ilona, als Provokation verpackt wurde. Inselbegabte waren häufig Autisten. Theo jedoch hatte Freunde, einen Job und führte ein weitgehend normales Leben, auch wenn er sich in schwachen Stunden eingestand, dass er vielleicht das eine oder andere Defizit haben mochte. Aber Inselbegabung? Er hielt es für sinnlos, nach Gründen dafür zu suchen, warum er sich ausgerechnet für Ägypten begeisterte. Es war eben einfach so. Er hatte offensichtlich ein Talent dafür – und zugleich hatte er das Problem, dass sich niemand in seinem näheren Umkreis dafür interessierte. Hätte er mit fünf Jahren sein erstes Menuett komponiert und wäre im zarten Alter von sechs Jahren auf Klavier-Konzertreise gegangen, wäre er für diese Begabung bewundert und gefeiert worden wie einst Mozart. Doch sein Talent war stillerer Natur. Theo war davon überzeugt, dass es Millionen von Menschen mit solchen Talenten und Interessen gab, die nur deswegen früh vertrockneten, weil sie damit keine Anerkennung erlangten.
Verschwendete Zeit? Oh nein, im Gegenteil! Es war für ihn die beste Zeit des Tages, wenn er Neuigkeiten über das alte Ägypten fand. So wie just an dem Tag, an dem er bei Ilona rausflog. Er war bei einem Freund untergekommen und surfte im Netz, und eine der Websites, die er regelmäßig besuchte, brachte die faszinierende Meldung, dass tief im Felsen am Fuß der Pyramiden von Gizeh ein Grab gefunden worden war. Viereinhalb Jahrtausende schien es alt zu sein. „Tomb of Osiris discovered“, war die Meldung betitelt – Osiris-Grab entdeckt. Eine Meldung, die Theo elektrisierte. Ilona war vergessen, zumindest für den Moment.
Unbekannte Baumeister hatten Korridore und Schächte über Dutzende von Metern in die Tiefe des Gizeh-Plateaus getrieben, um den Grundwasserspiegel zu erreichen, und dort unten hatten sie eine Kammer in den Fels geschlagen, in der auf einem künstlichen Hügel, der aus einem unterirdischen Teich ragte, ein Sarkophag stand. Es gab keinerlei Informationen darüber, wer dort unten bestattet worden war, die Grabkammer war völlig nackt, der uralte Sarkophag undekoriert und unbeschriftet, doch es musste jemand von Bedeutung gewesen sein, da sonst nicht dieser Aufwand getrieben worden wäre. Natürlich nicht der Gott Osiris, insofern war die Überschrift des Artikels falsch. Aber ein Pharao als Osiris, das war denkbar. Vielleicht Cheops, der Pharao, dessen Grabmal die berühmteste Pyramide der Welt war?
Es waren Rätsel dieser Art, die Theo fesselten. Wie gern hätte er dieses Grab entdeckt! Entdecker – das wäre ein Job, der zu ihm passte, fand Theo. Stattdessen wurde er – nein, nicht Reiseleiter. Aber etwas Ähnliches. Und zum ersten Mal konnte er sein Spezialwissen nutzen
„Sie kennen sich also in Ägypten aus?“, fragte Jonas Marquardt, der sich bei Elite-Reisen um Akquise kümmerte. „Wo waren sie denn schon überall?“
Theo zählte die Orte auf, die er damals besucht hatte: Kairo natürlich, Luxor und Karnak, das Tal der Könige und die nahen archäologischen Stätten Deir el-Bahari und Deir el-Medina, natürlich auch Philae, Edfu, Dendera, Alexandria, Abydos …
Bei Abydos horchte Marquardt auf.
„Erzählen Sie mir etwas über Abydos“, forderte er Theo auf, und das tat Theo, indem er ihn in diesem reizlosen Büro eine halbe Stunde durch den faszinierenden Totentempel des Sethos und durch das Osireion führte, das er ihm als das erstaunlichste Bauwerk ganz Ägyptens verkaufte.
„Tragen Sie nicht ganz so dick auf“, rüffelte Marquardt, „und bleiben Sie bei den Fakten. Der Tempel ist nicht so groß wie zwei Fußballfelder hintereinander, sondern nur wie eineinhalb. Aber ansonsten war das eine saubere Vorstellung.“
Eine Festanstellung war nicht drin, aber Marquardt bot ihm an, Theo regelmäßig zu buchen, wenn er sich entschließen würde, in Abydos freiberuflich Führungen anzubieten. Zwei Führungen pro Woche, 100 Euro pauschal pro Führung, das alles auf Probe für ein halbes Jahr, und wenn Theo sich bewährte, werde er mehr zu tun bekommen. Als freier Fremdenführer sei er natürlich völlig ungebunden und könne seine Dienste auch anderen Veranstaltern anbieten.
„Warum haben Sie mich zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen, wenn Sie mir keine Anstellung anbieten können?“, fragte Theo leicht enttäuscht.
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