Sie schlichen Richtung Ausgang, aber kaum hatten sie den Eingangskorridor erreicht, der zur Treppe führte, als draußen eine Gewehrsalve knatterte. Sie zuckten in den Schutz der ersten Kammer zurück.
„Sichert das Grab!“, brüllte draußen jemand auf Arabisch – so laut, dass sie es bis hier unten hören konnten.
„Das war keiner von uns“, stellte Theo trocken fest.
„Sie kommen!“, hauchte Fred und machte Anstalten hinauszulaufen, direkt ins Gewehrfeuer. „Oh mein Gott, ich muss Sonja helfen.“
Theo packte ihn am Arm und zog ihn mit sich in die zweite Kammer, vor den Zugang zur Rampe.
„Aber da unten sitzen wir in der Falle“, protestierte Fred.
„Nicht mehr als hier oben“, erwiderte Theo, „aber wir gewinnen Zeit.“
Und wir können uns da unten verschanzen.
Er dachte daran, dass er sich vor wenigen Stunden noch geweigert hatte, eine Pistole anzunehmen. Serafina hatte sie ihm mit dem trockenen Kommentar aufgezwungen:
„Übrigens – das da vorn ist der Lauf.“
Sie standen vor der Rampe.
„Du zuerst.“ Freds Stimme zitterte. „Du bist hier der Archäologe.“
Theo leuchtete voraus und wunderte sich über den dunklen Belag auf der Rampe, der etwas weiter unten feucht und schlickig glänzte, doch er setzte seinen Fuß über die Kante. Fester Grund, aber extrem steil abfallend und glatt. Das dunkle Zeug da unten beunruhigte ihn, aber Fred drängelte:
„Mach schnell! Ich glaube, sie kommen!“
Jetzt einen kühlen Kopf bewahren!
Der erste Schritt. Die Rampe war so steil, dass er sich weit zurücklehnen und sich sogar mit den Händen hinter sich am Boden abstützen musste, um Halt zu bewahren. Bergsteigerhaken und Seile wären nützlich. Er nahm die Taschenlampe zwischen die Zähne und krabbelte abwärts.
„Autsch!“ entfuhr es Fred, als er ausrutschte und mit der Schulter gegen die Wand prallte. „Verflucht, ist das glatt hier.“
Auf der Suche nach Halt stieß Fred mit einem seiner Füße gegen Theos linken Arm. Ehe Theo begriff, wie ihm geschah, knickte der Arm ein, und schon kam Theo ins Rutschen. Weder Füße noch Hände fanden Halt auf dem glatten Boden. Er erreichte den Abschnitt, wo der Boden von der dunklen Masse bedeckt war. Sie entpuppte sich als glitschiger Überzug – die Quelle des Moder-Geruchs.
„Was ist das für ein Schleim?“, rief Fred in heller Panik. Theo sah sich hektisch nach dem Studenten um, während er mit Händen und Füßen angstvoll nach Halt suchte, um seine Rutschfahrt zu stoppen. Fred war dicht hinter ihm und rutschte ebenfalls. Theo wurde schneller und schneller. Trotz seiner Panik versuchte er, die Nerven zu bewahren und die Hacken seiner Stiefel gegen den Boden zu stemmen, doch es war einfach zu glitschig.
Fieberhaft suchte Theo nach einer Lösung. Nach allem, was er über die Baupläne altägyptischer Königsgräber wusste, konnte die Rampe einige Dutzend Meter lang sein. Das eigentliche Problem war aber ein anderes: Oft folgte auf eine solche Rampe unmittelbar ein Schacht. Ein tiefer, breiter Schacht.
„Wie weit geht das hier noch runter?“, keuchte Fred.
Theo musste herausbekommen, was vor ihnen lag. Dafür vernachlässigte er seine Bremsversuche. Er nahm die Taschenlampe aus dem Mund und leuchtete voraus.
„Du liebe Zeit!“, entfuhr es ihm.
„Was ist denn los?“, kreischte Fred.
„Ein Brunnenschacht!“, schrie Theo. „Eine Fallgrube. Bestimmt zehn Meter tief. Wir brechen uns alle Knochen, wenn wir … Halt sofort an! Stopp, auf der Stelle!“
„Nichts leichter als das“, knurrte Fred und rutschte weiter.
Der Osiris-Punkt
1. Kapitel
Abydos, Oberägypten
2. März 2014, 10 Uhr
Im strahlenden Licht des Morgens lag bereits eine Andeutung von Sommerhitze. In wenigen Wochen würde der Tempelvorhof zu einem Glutofen werden.
Ein erster Frühsommertag, dachte Theodor Magenheim und sog die warme, trockene Wüstenluft tief in seine Lungen. Sanft wehte der Wind von den Klippen im Westen her, hinter denen die offene Wüste begann. Zwischen dem Tempel und jenen Klippen lag die Bucht von Abydos mit ihren Wellen aus Sand, die so langsam vom Wind vorangetrieben wurden, dass ihre Bewegung für das menschliche Auge nicht erkennbar war.
An Tagen wie diesem herrschte in Oberägypten das gesündeste Klima der Welt, jedenfalls für Allergiker wie Theo. Die Luft war völlig frei von Pollen. Theo war schon so lange beschwerdefrei, dass er seinen Heuschnupfen beinahe vergessen hatte. Doch das Klima würde nicht so bleiben. Vielleicht stieg die Temperatur heute auf angenehme 25 oder 26 Grad im Schatten. Morgen würden es dann schon 28 Grad sein, und wenn das Wetter und der warme Wind anhielten, konnten die Temperaturen im Schatten in drei, vier Tagen bei Mitte 30 Grad ankommen.
Ägypten eben. Wüste.
Theo machte das nichts aus, im Gegenteil. Das Klima war einer der Gründe, warum er sich hier so wohlfühlte. Im vergangenen Jahr waren ihm allerdings drei Reisende während der Führung zusammengeklappt. Die Diagnose war immer dieselbe: zu wenig getrunken. Vor allem europäische Reisende unterschätzten die Gefahren des Wüstenklimas. Jetzt ging es noch, aber im Sommer dehydrierte man schnell, und man merkte es erst, wenn es schon zu spät war, denn man hatte nicht das Gefühl zu schwitzen. Schweiß verdunstete in der trockenen Luft sofort, und zurück blieb lediglich eine dünne Kruste von ausgeschwitzten Salzen auf der Haut, die sich sandig anfühlte. Deswegen war Theo dazu übergegangen, seine Gruppen an den besonders heißen Tagen gleich unter die Kolonnaden des Tempelhaupthauses zu führen, statt den Prolog der Führung im ersten Vorhof beim Altar zu halten. Im Schatten der Kolonnaden war es im Sommer mit bis zu 46 Grad zwar immer noch alles andere als kühl, aber die Leute standen wenigstens nicht in der prallen Sonne. Zur Sicherheit hatte Theo immer einen Rucksack mit Wasservorräten bei sich. Manche der Tempelwärter nannten ihn daher leicht abfällig „Wasserträger“.
Es war jedoch erst Anfang März, und es würde noch dauern, bis es derart heiß wurde. Heute nahm Theo seine Gruppe am Bus in Empfang und führte sie wie gewohnt in den ersten Vorhof des Tempels, indem er über seinem Kopf eine Ausgabe der DuMont-Reiseberichte „Entdeckungsreisen in Ägypten 1815 bis 1819“ von Giovanni Belzoni schwenkte, einem der größten Raubeine unter den Pionieren der Ägyptologie, der das Grab jenes Pharaos entdeckt hatte, der auch diesen Tempel erbaut hatte. Theo war stolz auf dieses Buch, eine längst vergriffene Paperback-Ausgabe. Im äußersten Notfall war es seine Reserve gegen allwissende Touristen. Heute aber blickte er in freundliche, aufgeschlossene Gesichter, als sich seine Gruppe um ihn versammelte. Er zählte rasch durch. 16 Menschen, das war unter dem Durchschnitt.
Wie blass manche noch waren! Vermutlich übertrieben sie es mit dem Sunblocker. Natürlich wurde man in Museen, Tempeln, Gräbern, klimatisierten Hotels und Hotelschiffen oder Reisebussen nicht leicht braun, aber zwischendurch gab es genug Gelegenheit, Sonne zu tanken. Ganz so blass müssten die Leute nicht sein.
Kairo, Gizeh, Saqqara, Luxor – in kurzer Zeit hakten die Reisenden die wichtigsten kulturellen Höhepunkte ab. Gestern hatten sie den großen Amun-Tempel von Karnak besichtigt und dem Tal der Könige einen Besuch abgestattet. Das alte Ägypten im gehetzten Takt der modernen Welt. Manchmal wunderte sich Theo, dass überhaupt Zeit blieb für das eher unspektakuläre Abydos, wo es außer dem Tempel, in dessen Vorhof sie jetzt standen, keine monumentalen Prachtbauten gab. Doch Elite-Reisen, der Veranstalter, behauptete sich mit anspruchsvollen Bildungsreisen im Konkurrenzkampf. Ein realistisches Bild des alten Ägypten bestand eben nicht nur aus Kolossalstatuen des Ramses, so eindrucksvoll diese auch sein mochten, oder den grandiosen Gräbern im Tal der Könige. Niemand konnte das alte Ägypten begreifen, der nicht in Abydos gewesen war. Hier hatte sich eines der spirituellen Zentren dieser uralten Kultur befunden, denn hier war über viele Dynastien hinweg der Gott Osiris verehrt worden. Trotzdem ließen die meisten Veranstalter Abydos links liegen. Es gab einfach zu viel zu sehen am Nil.
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