„Chef, wie weit sollen sie gehen?“
„Es muss krachen. Die Nachricht von diesem Ereignis muss in jeder Hauptnachrichtensendung der Welt gebracht werden.“
„Das heißt …“
„Lass sie einfach von der Leine. Anschließend kannst du sie sowieso nicht mehr kontrollieren.“
5. Kapitel
Carnavaughn House, Luxor
2. März 2014, 14:30 Uhr
Archibald Carnavaughn behauptete gern, dass die Carnavaughns ein Geschlecht von miserablen Futterverwertern seien, denn sie neigten dazu, lang zu werden, aber dünn oder gar dürr zu bleiben, egal wie viel sie aßen. In der Steinzeit wären sie zum Aussterben verurteilt gewesen, meinte er, Männer wie Frauen, weil ihnen die Fähigkeit fehlte, Speck als Energiereserve für magere Zeiten aufzubauen. So gesehen wäre Archibald für das Leben in der Steinzeit prädestiniert gewesen, denn er war ein ausgezeichneter Futterverwerter und legte mit Leichtigkeit Energiedepots an.
Charles mochte den beleibten Mann. Vermutlich konnte niemand außer ihrer alten Tante Anabelle genau erklären, um wie viele Ecken ihres Familienstammbaumes Charles und sein Vater mit Archibald verwandt waren. Auch dies war eine Familiengeschichte, die Charles nur in ihren Grundzügen kannte. Archibalds Familienzweig hatte sich vor Generationen vom Hauptstamm der Familie abgespalten, als seine Vorfahren in die USA gegangen waren und die Familiensitte, die guten Kontakte zu pflegen, ignoriert hatten. Manchmal fiel der Apfel weit vom Stamm: Erst hundert Jahre später hatte Archibald irgendwo im staubigen Südwesten der USA nicht nur sein Interesse an seiner Herkunft, sondern auch ein gewisses dramatisches Talent entdeckt, das ihn befähigte, Romane über englische Lords zu schreiben. Was er dann ausgiebig getan und dabei Stoffe aus der Familiengeschichte der Carnavaughns verarbeitet hatte – und zwar ebenso langatmig wie respektvoll und niemals reißerisch. Darum war keiner seiner Romane jemals ein Bestseller geworden, zum Glück, aber zumindest eines der Bücher war in Tante Anabelles liebende Hände gelangt. Anabelle verschlang solche Schmonzetten und hatte es sich außerdem zur Lebensaufgabe gesetzt, die Familie zusammenzuhalten. Sie holte Archibald in den Schoß der Familie zurück, indem sie ihm zunächst den uferlosen Auftrag erteilte, eine Familienchronik der Carnavaughns zu schreiben. Inzwischen bekleidete er den Posten des Leiters des Familienarchivs und lebte in London. Seitdem hatte er keine Zeit mehr, Romane zu schreiben. Ein weiser Schachzug von Tante Anabelle, denn Archibalds Erzählungen lagen so nah an der Realität, dass ihre Protagonisten wiedererkennbar waren, wenn man sich ein bisschen auskannte.
So kam es, dass sich niemand besser in der Familiengeschichte der Carnavaughns auskannte als „der Amerikaner“, wie sie Archibald nannten.
„Karl! Wilhelm!“, begrüßte Archibald sie freudig. „Schön euch zu sehen.“
Charles und William tauschten Blicke – William indigniert, Charles belustigt. Sie saßen nebeneinander am Schreibtisch in Williams Arbeitszimmer, unter den gestrengen Blicken einer Büste von Lord George Carnavaughn, die am Kopf des Schreibtischs stand. Vor ihnen summte das Notebook und zeigte Archibald in seinem Büro in London, der gerade schwitzend seine Krawatte lockerte. Charles hatte inzwischen geduscht und sich frische Sachen angezogen, Jeans und ein sauberes, weißes Sommerhemd mit halben Armen. Seine Haare trug er nun sauber gescheitelt.
„Entschuldigt, ich komme von einem Symposium mit deutschen Historikern. Karl der Große – Mensch, Charles, bist du gewachsen!“
„Ich wachse nicht mehr, Archie, im Gegensatz zu dir“, gab Charles lachend zurück.
„Und du, Wilhelm?“
„William!“, knurrte William. „Gegen Wilhelm haben wir mal Krieg geführt. Das sollte selbst ein Amerikaner wissen.“
„Oh je, du hast völlig recht. Du wächst also auch nicht mehr.“
„Es ist schön, dich in ausgelassener Stimmung anzutreffen, Archibald“, versetzte William in einem säuerlichen Tonfall, der keinen Zweifel daran ließ, dass er das Gegenteil von dem meinte, was er sagte, „und wir möchten deine kostbare Zeit gewiss nicht vertrödeln. Ich darf zu unserem Anliegen kommen?“
„Aber gewiss doch.“
William berichtete, was vorgefallen war, und spätestens als der Name Sethos fiel, wurde der schalkhafte Archibald mit einem Schlag ernst.
„Puh“, machte er, als William geendet hatte, lehnte sich zurück und tupfte sich Schweiß mit seinem Einstecktuch vom Gesicht.
„Puh?“, wiederholte William verständnislos.
„Wisst ihr, diese Geschichte hätte das Zeug zum ganz großen Drama. Englischer Lord begegnet der Liebe seines Lebens. Zufällig handelt es sich dabei zwar um einen Mann, aber wo die Liebe nun mal hinfällt … Leider wird dieser ziemlich robuste schottische Bursche unerwartet ermordet, und der englische Lord wird fast wahnsinnig vor Schmerz und entwickelt fortan irre Theorien, die ihn in den Augen der Welt lächerlich machen … Findet ihr das nicht auch interessant, vom psychologischen Standpunkt gesehen? Ich wollte darüber mal einen Roman schreiben.“
„Lassen wir mal die Psychologie beiseite“, sagte William trocken, „denn sie gehört offenbar nicht zu deinen Kernkompetenzen. Es gibt Dutzende von Geschichten über männliche Carnavaughns mit männlichen Liebhabern, und keiner von ihnen ist deswegen irre geworden. Die meisten von ihnen haben Nachkommen gezeugt und sind liebende Väter geworden.“
Charles blickte seinen Vater erstaunt von der Seite an. War der Alte vielleicht doch nicht so verknöchert, wie er geglaubt hatte? Sprach er möglicherweise sogar von sich selbst?
„Ich rede nicht über Liebhaber, sondern über Liebe“, erwiderte Archibald genauso ernst, „vielleicht sogar über die Liebe seines Lebens. Außerdem ist meines Wissens kein anderer Carnavaughn-Liebhaber derart rabiat aus dem Leben geschieden. So was kann durchaus traumatisierend wirken.“
„Ich glaube“, schaltete Charles sich ein, „Archibald will uns sagen, dass wir nach den Motiven von Onkel George fragen sollten, seine Theorie derart unbeirrt zu verfolgen.“
Archibalds Brauen hoben sich, er nickte und sagte:
„Das nenne ich eine klare Formulierung. Charles, ich habe ganz vergessen, was du studiert hast …“
„Nehmen wir einmal an“, fuhr Charles lächelnd fort, ohne auf die indirekte Frage einzugehen, „dass der Mord an Robert Hays wesentlich dazu beigetragen hat, dass Onkel George nicht von seiner Theorie abzubringen war. Was ist aber mit dem Papyrus?“
„Du meinst den Sethos-Papyrus?“
„So nannte Onkel George das Dokument. Ich kann nicht beurteilen, ob es diesen Namen zu Recht trägt.“
„Dann solltet ihr euch die Kopie ansehen, die wir besitzen.“
„Das werden wir nachher tun“, sagte Charles, „aber so viel wir wissen, ist sie unzureichend, so dass Onkel George das Grab nie fand.“
„Ja, sie ist unzureichend, weil Gabriel Fairbanks, Georges Sekretär, sehr vorsichtig beim Kopieren war. Man könnte ihn auch als zaghaft bezeichnen. Ich habe vor längerem einen Zeitzeugenbericht aus seiner Feder gelesen, in dem er niedergeschrieben hat, was damals geschehen ist. Ich weiß nicht mehr, wie er sich genau ausgedrückt hat, aber offenbar hatte der Papyrus unleserliche Stellen, vielleicht durch die Einwirkung von Wasser oder Schimmel. In den Übergangsbereichen zu diesen dunklen Stellen muss dennoch etwas zu erkennen gewesen sein, was Fairbanks sich allerdings nicht zu kopieren getraute. Er hielt das für gefährlich, er hatte Angst, den Papyrus unangemessen zu interpretieren, wenn er Zeichen kopierte, die er nicht genau erkennen konnte. Es wäre hilfreich gewesen, wenn er Hieroglyphen hätte lesen können, aber über diese Fähigkeit verfügte er nicht. Das war 1834, in der ersten der beiden Nächte, in denen sich der Papyrus in eurem trauten Heim befand, und zu dieser Zeit konnte man erst seit etwa zehn Jahren Hieroglyphen lesen. In der folgenden Nacht verschwand das Schriftstück.“
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