„Wie kommen wir an diesen Zeitzeugenbericht?“, fragte Charles. „Ich würde ihn gern lesen.“
William sah seinen Sohn erstaunt von der Seite an.
„Keine Sorge, ich bin völlig gesund“, feixte Charles.
„Ich werde ihn euch zumailen“, antwortete Archibald. „Der Mörder von Robert Hays wurde übrigens nie gefasst, wusstet ihr das? Es gibt ein knappes Dutzend Kandidaten, die es getan haben könnten. Die Villa in Luxor war ein Anlaufpunkt für allerlei abenteuerliche Gestalten, die Ägypten bereisten. Onkel George war daran gelegen, möglichst viel aus allen Winkeln des Landes zu erfahren, daher führte er ein offenes Haus, aber dabei ging es wohl nicht immer ganz konfliktfrei zu. In seinem Bericht schreibt Fairbanks, dass George und Robert Hays sich wegen des Papyrus‘ beinahe zerstritten haben.“
„Auch du glaubst also, dass der Papyrus das Mordmotiv war?“
„Das liegt nahe. Auch Onkel George hielt ihn für wertvoll.“
„Weil er einen Hinweis auf ein Sethos-Grab in Abydos enthält, das es nicht geben dürfte?“
Archibald antwortete nicht gleich, sondern musterte Charles und William ausgiebig, während er nachzudenken schien.
„Ich möchte zu Protokoll geben, dass ich kein Archäologe bin“, begann er langsam. „Ihr werdet euch die Abschrift des Papyrus selbst ansehen und euch ein Bild davon machen, und ihr habt Fachleute, die euch dabei helfen. Meines Wissens enthält der Papyrus einen ziemlich klaren Hinweis auf ein Grab des Sethos in Abydos, genau wie du sagst, aber bis heute war das der einzige Hinweis auf dieses Grab. Der Papyrus selbst scheint nicht unglaubwürdig zu sein, aber da George seine Theorie mit Emphase, um nicht zu sagen: mit Verbissenheit vertrat, hat es niemals eine wirklich neutrale Beschäftigung mit dem Papyrus gegeben, oder besser: mit der Abschrift. Jetzt hat euer Bill Sheridan einen weiteren Hinweis auf ein Sethos-Grab in Abydos gefunden, wie William sagt. Angesichts der Vorgeschichte und voller Respekt vor Onkel George müsst ihr sorgfältig abwägen, wie ihr diese Sache anfasst.“
„Natürlich“, sagte William. „Wir wissen, was wir unserer Familie schuldig sind.“
„George hat sich damals heftige Auseinandersetzungen mit namhaften Leuten geliefert“, fuhr der Amerikaner fort, „und dabei seinen Ruf beinahe ruiniert. Wenn ihr diese Debatte jetzt wieder aufleben lasst, müsst ihr euch absolut sicher sein.“
„Was für namhafte Leute?“, fragte Charles.
„Zum Beispiel Bernardino Drovetti.“
„Nie gehört.“
„Ich schon“, warf William ein, und seine Miene verdüsterte sich. „Das war ein ziemlich durchtriebener Mistkerl, der unseren Diplomaten das Leben schwer gemacht hat. Drovetti war unter Napoleon und später unter Karl X. französischer Konsul in Kairo, und seine Bubenstücke gehören zur Ausbildung an der Diplomatenschule.“
„Drovetti war zweifellos ein begabter Diplomat und Patriot, genau wie du, William“, versetzte Archibald lachend, „nur eben für die andere Seite.“
„Ist das noch so eine Familiengeschichte, die ich kennen müsste?“, stöhnte Charles.
„Eher etwas für den Hintergrund. Im 19. Jahrhundert lieferten sich England und Frankreich einen Wettlauf um Einflusssphären und Kolonien, und zwar mit allen Mitteln unterhalb der Schwelle zum offenen Krieg. Du darfst dir diesen Konflikt ganz ähnlich vorstellen wie den Kalten Krieg im letzten Jahrhundert – natürlich ohne Atomwaffen. Mitunter mündete dieser Konflikt in Stellvertreterkriege. Wenn du so willst, ist der Wettlauf um ägyptische Altertümer so ein Stellvertreterkrieg gewesen. Beide Seiten versuchten zu glänzen, indem sie großartige Kunstschätze aus Ägypten raubten und in ihren Hauptstädten glanzvoll präsentierten. Darum stehen heute in vielen damaligen Hauptstädten altägyptische Obelisken. Bernardino Drovetti war unter anderem dafür zuständig, Napoleon mit repräsentativen Altertümern zu versorgen, und dafür schickte er seine Agenten durch Ägypten und grub auch gelegentlich selbst. Sein Gegenspieler war Generalkonsul Henry Salt, unser Mann, der es genauso machte und übrigens einen berühmten Angestellten hatte, der sehr erfolgreich bei der Jagd nach Altertümern war: Giovanni Belzoni.“
„Diesen Namen habe ich schon mal gehört“, gestand Charles selbstironisch.
„Belzoni war der effektivste Antiquitätenjäger überhaupt, auch wegen seiner ruppigen Methoden. Den Zugang zur Chephren-Pyramide sprengte er sich beispielsweise mit Dynamit frei, und wohl kaum ein anderer wäre zur damaligen Zeit dazu fähig gewesen, den tonnenschweren Kopf einer Kolossalstatue des Ramses oder ganze Obelisken außer Landes zu schaffen.“
„Und wer hat diesen Wettlauf gewonnen?“
„Wir!“ William nickte. „Natürlich.“
„Aber die Franzosen waren auch nicht schlecht“, erwiderte Archibald. „Ein Beleg dafür ist der Obelisk auf der Place de la Concorde in Paris. Der steht dort nämlich schon seit 1836 als Sinnbild kolonialer Macht. Wir konnten diese Scharte erst 1878 auswetzen.“
„Wissenschaft und Prestige.“ Charles schüttelte den Kopf. „Damals schon so dicht beieinander wie heute.“
„Es ging meistens nicht um Wissenschaft, jedenfalls nicht, bis die Preußen kamen“, erwiderte Archibald. „Die brachten dann aber schnell System in die Sache.“
„Zurück zu Onkel George und dem Sethos-Grab“, mahnte William. „Wie realistisch ist es, die Existenz eines solchen Grabes anzunehmen?“
„Wenn man den Sethos-Papyrus beiseitelässt?“, fragte Archibald.
William nickte.
„Wie gesagt, ich bin kein Archäologe, aber ich kenne die Fakten. Als Giovanni Belzoni das Sethos-Grab im Tal der Könige im Jahr 1817 fand, war es so gut wie leer. Er fand lediglich einen wunderbaren, aber leeren Alabaster-Sarkophag in der Grabkammer. Keine Königsmumie und auch keinen Grabschatz, wie wir ihn beispielsweise aus dem Grab des unbedeutenden Pharaos Tut ench-Amun kennen. Bis heute ist mir nichts davon bekannt, dass Fundstücke aus dem Grabschatz des Sethos an die Öffentlichkeit gedrungen wären. Die Mumie des Sethos jedoch wurde 1881 gefunden, durch einen Deutschen namens Emil Brugsch. Sie befand sich in einem Mumiendepot in der Nähe des Tempels der Hatschepsut in Deir el-Bahari nahe Theben und ist die besterhaltene Pharaonen-Mumie, die bisher geborgen wurde.“
Charles hielt die Luft an, während er Archibald zu folgen versuchte. Das alles war ein Haufen Information auf einen Schlag. Er bereute, dass er sich noch nicht besser mit Ägypten vertraut gemacht hatte. Ein Tagestripp hinüber ans Westufer ins Tal der Könige, eine Besichtigung des Karnak-Tempels und natürlich seine Besuche in Kairo und Abydos, um als Chef von Deep Dry bella figura zu machen – das war bisher alles.
„Ich habe irgendwo mal gelesen“, sagte William, „dass die Sethos-Mumie wie auch andere Mumien vor Grabräubern in Sicherheit gebracht worden ist und dass die Priester sie deswegen in dem Mumiendepot eingelagert haben. Das würde erklären, warum kein Grabschatz des Sethos gefunden wurde: Er wurde geplündert, und das Gold wurde eingeschmolzen.“
„Das ist eine Theorie, die ziemlich plausibel klingt, die sich aber nicht beweisen lässt“, antwortete Archibald. „Ein Grabschatz besteht ja nicht nur aus Gold. Den Toten wurden Möbel und alle möglichen kostbaren Gebrauchsgegenstände ins Grab mitgegeben, die oft mit Königskartuschen gekennzeichnet waren, also den Namen der Toten, denen sie dienen sollten. Und nicht zu vergessen die vier Kanopenkrüge, in denen die mumifizierten Eingeweide ins Grab gestellt wurden. Nichts davon wurde im Fall Sethos jemals gefunden oder tauchte bei irgendeinem Kunsthändler im Lauf der letzten zweihundert Jahre auf. Deswegen kann man mit absoluter Sicherheit nur eines sagen: Die Mumie wurde nicht in ihrem eigenen Grab aufgefunden – warum auch immer. Fakt ist also: Es gibt ein seit langem bekanntes Königsgrab, das leer aufgefunden wurde. Und es gibt die Mumie des Königs, die an einem völlig anderen Ort gefunden wurde. Streng genommen muss man daraus folgern, dass das Grab Nr. 17 zwar mit Sicherheit das Sethos-Grab war, dass man aber nicht mit Sicherheit sagen kann, dass er tatsächlich dort bestattet wurde.“
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