„Mir schwirrt der Kopf“, klagte Charles. „Ich brauche jetzt etwas zu trinken.“
„Sind wir an das Ende dieser Geschichte gekommen?“, fragte William nach London.
„Ganz sicher nicht“, antwortete Archibald, „aber an das Ende dessen, was ich euch erzählen kann – es sei denn, ihr wollt noch mehr über Onkel George und sein Leben wissen.“
„Vorerst nicht“, sagte William, „aber wir dürfen uns doch sicher wieder an dich wenden, wenn wir Fragen haben?“
„Gewiss.“ Archibalds rundes Gesicht verzog sich zu einem Grinsen. „Aber nur, wenn ihr meine Kompetenzen in Vulgärpsychologie nie wieder anzweifelt!“
Sie lachten, verabschiedeten sich und loggten sich aus.
„Der Tempel selbst als Hinweis auf ein Grab – dieser Gedanke hat was“, überlegte Charles. „Das Offensichtliche übersieht man leicht … War das wirklich alles neu für dich?“
„Nein, vieles davon wusste ich“, antwortete William, „aber es ist doch immer wieder erhellend, wenn jemand mit Überblick die vielen Schnipsel in den richtigen Zusammenhang rückt. Die Teile fügen sich zusammen, und man hat ein Aha-Gefühl.“
„Ich hätte mich viel früher darum kümmern sollen.“
„Du hast andere wichtige Dinge getan, mein Junge – zum Beispiel hast du studiert. In jungen Jahren setzt man andere Prioritäten.“
Es klopfte, und Elroy streckte seinen Kopf durch die Tür des Arbeitszimmers.
„Entschuldigen Sie die Unterbrechung, Sir. Mr. Sheridan ist eingetroffen.“
Ihnen schwirrte noch der Kopf von den vielen Informationen, doch als Charles und William den Archäologen im Foyer trafen, kehrten sie schlagartig in die Gegenwart zurück. Bill machte ein ernstes Gesicht, wirkte gar verstört.
„Ich habe vielleicht einen Fehler gemacht“, bekannte er nach der Begrüßung. „Eigentlich wollte ich nur die Bestimmungen einhalten und habe daher das Inspektorat in Sohag über den Fund informiert. Der Inspektor reagierte aber völlig verärgert.“
„Ahmed Nur ed-Din?“, fragte William.
Bill nickte.
„Seit eineinhalb Jahren ist Nur ed-Din als Inspektor für Abydos zuständig, und seitdem gab es nichts als Probleme. Der Mann hat keine Gelegenheit ausgelassen, uns Knüppel zwischen die Beine zu werfen. Bisher konnte er uns nicht ernsthaft am Zeug flicken, weil uns keine Regelverletzungen nachzuweisen waren, aber diesmal …“
„Die Tonkrüge“, vermutete William und deutete auf die Kiste, die im Foyer stand.
„Ich sollte nach Abydos zurückfahren“, sagte Bill, „und zwar schnellstmöglich. Nur ed-Din war auf 180, als er erfuhr, dass ich die Krüge von der Fundstelle entfernt habe, um sie ins Labor zu bringen. Ich habe ihn von unterwegs angerufen. Noch wütender wurde er, als ich ihm erzählte, dass ich nicht der zuständige Grabungsleiter bin, sondern nur in der Eile herbeigeholt wurde. Er hat eine sofortige Inspektion der Fundstelle angekündigt und mir befohlen, die Krüge auf der Stelle zurückzubringen.“ Er sah auf die Uhr und seufzte dann. „Inzwischen müsste er in Abydos eingetroffen sein. Oh Gott, Serafina …“
„Serafina ist vor Ort?“, fragte Charles.
„Sie hat vor einer halben Stunde durchgegeben, dass sie beim Osireion angekommen ist, und ich habe sie darauf vorbereitet, was ihr drohen könnte.“
„Dann machen Sie sich keine weiteren Sorgen. Serafina wird mit jedem fertig.“
„Das ist es ja. Sie könnte alles noch schlimmer machen.“
„Sie haben richtig gehandelt, Bill“, sagte William nach kurzer Überlegung. „Die Verwaltung ist in letzter Zeit ziemlich rüde mit uns umgesprungen. Was Sie berichten, passt zu meinen eigenen Wahrnehmungen von den Vorgängen in dieser Behörde. Wir rammen also mal einen kleinen Pflock ein und zeigen diesen Leuten, dass wir nicht alles mit uns machen lassen. Immerhin haben wir es auch früher schon so gehandhabt, dass sensible Artefakte schnell und unbürokratisch in unser Labor gebracht wurden, auch wenn das vielleicht nur dem Geist der Regeln entsprach, nicht aber ihrem Wortlaut.“ Er runzelte die Stirn. „Allerdings kann ich nicht verhehlen, dass ich ein mulmiges Bauchgefühl habe. Charles, was hältst du davon, ein paar unserer Sicherheitsleute nach Abydos zu beordern? Zwei oder drei Mann?“
„Gute Idee, Vater. Ich werde das gleich mit Sean besprechen.“
„Und wir zwei, Bill“, sagte William, während Charles sich entfernte, „bringen inzwischen diese interessante Kiste ins Labor. Wie alt, sagten Sie, sind diese Krüge?“
„Wenn sie in die Zeit gehören, die ihr Inhalt vermuten lässt, sind sie knapp 3300 Jahre alt.“
„Verdammt!“, entfuhr es William. „Hoffentlich zerbrechen sie nicht auf den letzten Metern.“
Vorsichtshalber beförderten sie die Kiste per Küchenlift in den Keller.
6. Kapitel
Sethos-Tempel, Abydos
2. März 2014, 15 Uhr
Ahmed Nur ed-Din war angespannt wie selten zuvor in seinem Leben. Dies war die erste echte Krise, die er seit seinem Amtsantritt als Inspektor zu bewältigen hatte, und ihm saß ein fürchterlich wütender Bernard Tedritov im Nacken.
„Was sagst du da?“, hatte er Nur ed-Din am Telefon angebrüllt. „Er hat zwei Krüge von der Fundstelle entfernt?“
„In einem davon sei eine Papyrusrolle gefunden worden, sagte er“, fügte der Inspektor ungeschickterweise hinzu und begann noch im selben Moment zu fürchten, dass Tedritov nun vor Wut bersten werde, doch sonderbarerweise war der Chef auf einen Schlag absolut ruhig – bis auf ein unheilverkündendes Vibrieren in seiner Stimme, als er sagte:
„Die Regeln sind ganz klar: Das Zeug hätte in eines unserer Labore gebracht werden müssen. Du machst jetzt Folgendes: Du würgst die Grabungen ab. Beide, die auf dem Tempelgelände und die von diesem Carnavaughn-Affen Sheridan!“
„Chef …“, hob Nur ed-Din zaghaft an, stockte aber, ehe ihm Widerspruch über die Lippen kommen konnte. Tedritov fiel ihm auch sofort ins Wort.
„Die Carnavaughns sollen aus Abydos verschwinden“, zischte er. „Ich kann sie da nicht gebrauchen.“
„Alles klar!“
Nur ed-Din hatte sich sofort auf den Weg gemacht und das Gaspedal durchgetreten. Die Fahrt von Sohag nach Abydos dauerte eine knappe Stunde – genug Zeit für den Inspektor, die Sache noch einmal zu durchdenken und sich eine Strategie zurechtzulegen.
Tedritov reagierte deswegen so scharf, weil er keine Ahnung hatte, welche Informationen die Papyri enthielten – vielleicht irgendwelche Angaben, die Tedritovs eigenen Plänen in Abydos einen Strich durch die Rechnung machen könnten? Informationen, die die Carnavaughns zu Gräbern führen könnten, die bisher noch unentdeckt waren und die Tedritov für sich haben wollte? Immerhin lag der Fundort auf dem Gelände des Sethos-Tempels! Zudem waren es ausgerechnet die Carnavaughns, die diesen Erfolg eingefahren hatten. Nur ed-Din konnte diese blasierten Blaublüter genauso wenig leiden wie sein Chef, aber man musste vorsichtig mit ihnen sein. Tedritovs Reaktion kam ihm daher überzogen vor, und vielleicht war sie sogar gefährlich.
Es würde alles andere als leicht werden, Bill Sheridan am Zeug zu flicken. Der Mann war ein angesehener Archäologe und über jeden Zweifel erhaben. Niemals würde er etwas auf eigene Rechnung von einer Fundstelle entwenden. Er hatte zweifellos so gehandelt, wie es für die Artefakte das Beste war. Hätte er die Papyri ins Labor der Altertümerverwaltung in Sohag gebracht, wozu er bei genauer Auslegung der Regeln verpflichtet gewesen wäre, dann wären sie zwar schneller im Labor gewesen, aber dort hätte man sie auf eine Warteliste gesetzt und dann unter stabilisierenden Bedingungen eingelagert, bis ein Restaurator Zeit für sie gefunden hätte. Bei den Carnavaughns in Luxor kümmerte sich zweifellos sofort jemand darum. Deren Labor war zertifiziert und vertrauenswürdig. Die Papyri waren dort in guten Händen. Sheridans Verfehlung verdiente daher eigentlich kaum mehr als eine freundliche Rüge. Nur ed-Din sah die Gemeinde der Wissenschaftler schon die Köpfe schütteln, wenn er scharf gegen Sheridan vorginge.
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