Und dann hatte ihnen sogar das Glück gelacht.
Yambi hatte sich damals auf ihrer Suche nach Nahrung sehr weit von der Hütte entfernt. Dabei war sie einer kleinen Karawane begegnet. Einer der Männer war verletzt und sie hatte erfolgreich die Wunde des Mannes behandeln können. Aus Dankbarkeit hatten die Karawaniers ihr einen Sack Hirse geschenkt und respektiert, dass sie ihnen keine Auskunft gab, woher sie kam und wohin sie gehen wollte.
Mit dem so erworbenen, unglaublichen Nahrungsvorrat und dem noch nicht versiegten Wasserloch, konnten sie länger als üblich an dem jetzigen Ort überleben. Eine seltene Annehmlichkeit.
Seit einiger Zeit war es nötig, zum Wasserschöpfen das Wasserloch jedes Mal noch tiefer zu graben. Bald würde es zu gefährlich und auch vergebens sein, denn selbst in der Jahreszeit, die eigentlich die Regenzeit hätte sein sollen, stieg der Wasserspiegel nicht mehr.
In absehbarer Zukunft würde das Überleben hier nicht mehr möglich sein. Länger schon reichte das Wasser nur noch zum Trinken und Kochen. Für alles andere, durfte kein Tropfen verschwendet werden. Bis sie weiterziehen würden, mussten die beiden jüngeren Brüder Yambi helfen. Jeden Tag brauchten sie zusätzliches Wasser. Die Brüder mussten also täglich zu jeder noch so kleinen Wasserstelle, die Shana in der Nähe fand, laufen, um die Wasserschläuche aufzufüllen und so für das notwendigste Wasser zu sorgen.
Shana unternahm derweil ihre weiten Wanderungen allein - immer auf der Suche nach der neuen Wasserstelle, die endlich einen Lagerwechsel ermöglichen würde. Und ihre Wege wurden immer länger, das durchstreifte Gebiet immer größer. Aber gleichgültig wie müde sie war, sie gab nicht auf. Die Sorge, nichts mehr zu finden, wurde mit jedem Mal stärker, doch das würde sie nicht davon abhalten, ihre Aufgabe zu erfüllen.
Eigentlich hätten sie die Hütte ja längst aufgeben sollen ...
In ihrem kurzen Leben hatte sie oft genug, die Opfer des Mangels vorgefunden, wenn sie von einer Wanderung zurückkam. Diesmal waren es nur die enttäuschten Augen der Kinder, die sie mit lautlos bettelndem Blick verfolgten. Die großen, dunklen Augen in den kleinen, ausgezehrten Gesichtern, die trotzdem jedes Mal freudestrahlend aufleuchteten und ihr lachend entgegenkamen. Für sie, war Shana bereit alles zu geben. Wie gerne wollte sie ihnen endlich eine gute Nachricht bringen!
Als sie sich jetzt zum erneuten Aufbruch vorbereitete, wusste sie, wenn sie bei der kommenden Suche keine ergiebigere Stelle fand, würden sie alle aufs Geratewohl losziehen müssen. Die Sorge erdrückte sie und sie fragte sich, ob es nicht sinnvoll sei, sich von dem Sandland des Westens abzuwenden.
„Yambi, wie weit ist es bis zum Ostgebirge?“, fragte sie in den kleinen, dunklen Raum, während sie zögernd eintrat.
„Warum in aller Welt willst du das wissen? Im Osten lauern größere Gefahren auf uns, als der Durst. Das hat jedenfalls dein Vater immer gesagt. Das Sandland ist hart, aber sicher.”
„Yambi, ich finde im Sandland keine Wasserstellen mehr“, erwiderte sie mit müder, ermattender Stimme und atmete hörbar aus. Sie glaubte, Yambis Augen in dem dämmrigen Licht aufblitzen zu sehen.
Die ältere Frau richtete sich zu ihrer vollen Größe auf. Noch immer war sie eine schöne, würdevolle Erscheinung, die keinen Zweifel daran aufkommen ließ, dass sie die kleine Sippe beschützen würde. Einen Augenblick lang sah sie Shana stumm an, dann sagte sie mit Nachdruck: „Shana, hör mir zu: Ich habe weder dich noch deine Geschwister oder meine Tochter aufwachsen sehen, um mitzuerleben, wie ihr alle in die Sklaverei geht. Das ist genau das, was uns im Osten erwartet. Und glaube mir, dich wird es am schlimmsten treffen. Du hast das Erbe des alten Volkes. Du weißt, dass deine helle Haut nicht der Segen ist, den dein Vater darin sah. Mir und den Kindern würde kein so viel schwereres Leben drohen. - Aber du? Alleine deine Haare zögen jedes Mal die Aufmerksamkeit auf sich, wenn es jemanden bräuchte, den man benutzen kann. Und deine Haare könnten wir scheren, doch was willst du gegen deine Haut tun? Diese würdest du im wahrsten Sinne des Wortes stets zu Markte tragen. Schnell wärst du vollkommen rechtlos. Und mit 'vollkommen' meine ich vollkommen! Nichts und niemand würde dich schützen. Also vergiss solche Gedanken vom Osten. Setz dich, iss und geh dann nach Südwesten.“
Shana stopfte eilig etwas Brot in ihren Mund, nickte Yambi zu, griff ihre Wasserbeutel und die Provianttasche und marschierte los. Hätte sie auch nur geahnt, dass es das letzte Mal war, an dem sie ihre Sippe sah, wäre sie nicht so leicht davon gegangen.
Seit sie ihr Grasmattenlager an diesem Ort aufgeschlagen hatten, war Shana in Richtung Norden aufgebrochen. Seitdem ging sie bei jeder Wanderung ein wenig weiter nach Westen los. Jetzt führte der Weg schon südwestlich. Dorthin, wo sich der Sand erstreckte, soweit ihre Augen schauen konnten.
Stets ging sie von ihrem Lagerplatz startend, geradeaus in die ausgesuchte Himmelsrichtung. Wenn sie nach drei bis vier Tagen kein Wasser fand, ging sie einen halben Tagesmarsch zur bisher eingehaltenen Linie nach links und dann genau Richtung Lager zurück. So kam sie wieder zur Hütte, bevor ihre Wasservorräte gänzlich aufgebraucht waren. Auf diese Weise suchte sie die gesamte Gegend, um die Hütte herum, strahlenförmig ab.
Ihr Vater, Rodas, hatte sie lange gelehrt, wie man die Richtung wirklich einhalten konnte und wie der Stand der Sonne und der Sterne als Markierung dienten. Immer wieder hatte er dies mit ihr geübt, sie bei den geringsten Fehlern korrigiert. Liebevoll, aber konsequent. Auch die winzigen Unterschiede in der Farbe des Sandes, der Größe der Körnung, hatte er sie lesen gelehrt. Jetzt gab ihr der Sand wertvolle Hinweise auf dem Weg. Ein Searcher, der seine Augen und Ohren nicht optimal ausnutzte, war dem Tod geweiht und damit auch die jeweilige Sippe. Rodas hatte sie bei jedem Aufbruch erneut gewarnt: „Wir verlaufen uns nur ein einziges Mal in unserem Leben.“
Wie versprochen, wandte sie sich wieder ein wenig weiter nach Südwesten. Vor ihr lag die weite, unwirtliche Ebene, deren Anblick jedem vernünftigen Menschen einen Schrecken eingejagt hätte. Doch Shana war nicht vernünftig. Welche Herausforderung es war, genau in dieser lebensfeindlich wirkenden Einöde nach winzigen Fleckchen zu suchen, die ein karges, auf das notwendigste reduzierte Leben ermöglichten, kam ihr gar nicht in den Sinn. Was jedem anderen Bewohner der Gegend als vermeidbarer Wahnsinn erschien, war für sie die einzig denkbare, nicht in Frage zu stellende, gewohnte Lebensform. Das freie Volk, hatte unsichtbar für den Rest der Welt zu existieren. Nur dann konnten sie frei bleiben. Aber darüber hatte sich Shana ebenfalls noch nie Gedanken gemacht. Was sie hier tat, war alles, was sie kannte, war für sie wie die Existenz der kleinen Tiere, mit denen sie diesen Lebensraum teilte, einfach da, so selbstverständlich wie Atem holen.
Schritt für Schritt setzte sie voran. Bald brannte die Glut des Sandes an ihren Fußsohlen, zwang die sengende Hitze sie anzuhalten. Obwohl ihre Füße mit einer dicken Hornhautschicht bedeckt waren, entschloss sie sich, die ledernen Strümpfe zum Schutz vor dem gnadenlos glühenden Boden anzulegen. Das Atmen fiel schwer, obwohl der Gesichtsschleier verhinderte, dass die heiße Luft direkt in ihren Rachen strömte und mit jedem Atemzug ihre Lungen verbrannte. Jetzt war der eigene Kopf der ärgste Feind. Wenn sie ihren Gedanken auch nur kurze Zeit erlaubte, Zweifel am möglichen Erfolg ihrer Mission zu schüren, war sie verloren.
Für ein paar Schritte schloss sie die Augen, sperrte das Bild der zitternden Luft aus, lauschte konzentriert auf den Klang des knirschenden Sandes. Der Untergrund änderte sich. Statt des fein geriffelten, festen Bodens betrat sie ein Feld mit einer zunehmend dickeren, weit lockeren Sandschicht. Sie änderte ihren Gang. Schob die Füße schlurfender voran und spähte durch halb gesenkte Lider vor sich. Noch gewährte der Sonnenstand ihr eine längere Strecke. In seinem Zenit würde sie sich einfach niederkauern, den weiten Umhang über den Kopf legen und sich darunter reglos verbergen, bis die ärgste Glut nachließ. Alles deutete darauf hin, dass der Wind stärker werden würde. Gegen den Wind würde sie mehr Kraft brauchen, doch er würde die Hitze scheinbar lindern.
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