»Aber das soll er ja gar nicht!« berichtigte sich der Papagei hektisch flatternd. »Das soll er ganz und gar nicht! Nur für den Fall, daß du, meine liebe Linny, dich entscheidest, einen anderen als den magischen Weg einzuschlagen, wäre es hilfreich, den Kaskadenring in die Obhut der Hohepriesterin zu geben, damit die hohe Frau die Kraft des Ringes zu unser aller Schutz einsetzen kann. So versteh doch, meine Kleine, es sind nur noch wenige Tage bis Halloween! Es bleibt uns keine Zeit mehr!«
»Und was, wenn an Halloween gar nichts geschieht? Ehrlich gesagt habe ich all die Jahre zuvor nichts von der Auferstehung böser Geister in der Halloween-Nacht bemerkt! Wieso sollte es dieses Jahr anders sein?« sagte Linny mit skeptischer Miene.
»Aber laß es dir doch erklären, Kind: Deine Mutter hat dich lange Zeit von der Magie ferngehalten, um dir eine unbeschwerte Kindheit zu ermöglichen. Der dreizehnte Geburtstag ist für alle angehenden Hexen und Magier ein entscheidendes Datum. Bis zu diesem Tag werden sie von den älteren Eingeweihten, zumeist von ihren Familien, beschützt und gegen äußere Einflüsse abgeschirmt. Doch mit der Entscheidung eines jungen Zaubereianwärters für seine magische Laufbahn setzt er sich automatisch der Gefahr aus, mit den dunklen Kräften konfrontiert zu werden. Und diese Entscheidung, meine liebe Linny, nämlich die Entscheidung für oder gegen die Magie, steht auch dir an Halloween bevor. Wir alle wissen nicht, wie du, mein Kind, dich entscheiden wirst. Noch weniger wissen wir, wie stark die dunklen Mächte tatsächlich geworden sind. Falls es zu einer Auseinandersetzung mit dem Bösen kommen sollte, so muß der Kaskadenring rechtzeitig an den Finger des Wanhannaee-Oberhauptes gelangen, damit seine schützende Macht das Blatt zu unseren Gunsten wenden kann!« Hunibald tat einen tiefen Seufzer. Das Mädchen war schwerer zu überzeugen, als er angenommen hatte.
»Also, schön. Mag sein, daß du recht hast. Wenn man die Existenz von Magie grundsätzlich für möglich hält, hören sich deine Ausführungen plausibel an. Allerdings sind das nur Behauptungen. Es fehlen dir die Beweise! Woher weiß ich, daß du mir die Wahrheit sagst? Ebensogut könnte es sein, daß du bloß irgendeine diebische Elster bist!« sagte Linny provozierend.
»Wie bitte? Ich habe mich wohl verhört! Diebische Elster?! Nimm das zurück!« empörte sich Hunibald.
»Schon gut, schon gut, beruhige dich! Du wirst doch aber einsehen, daß ich mich absichern muß, bevor ich dir unseren Familienschmuck aushändige. Das verstehst du doch!« versuchte Linny ihren Taufpaten zu beschwichtigen. Doch der Papagei war tief getroffen und sichtlich beleidigt.
»Pah! Nichts verstehe ich!« entgegnete er gekränkt. »Ich habe ja schon einiges erlebt, aber als ›diebische Elster‹ bin ich noch nie zuvor beschimpft worden!«
»Also gut, tut mir leid! Ich nehme die ›diebische Elster‹ zurück. Bitte, nun komm schon, Hunibald, nimm noch ein Cognacböhnchen, bitte! Und dann erzähle mir noch mehr über die Hintergründe der dunklen Bedrohung«, bat Linny in versöhnlichem Ton.
»Nichts werde ich dir mehr erzählen, Lalinda von Wittenberg! Und deine Böhnchen kannst du getrost an deine trinkfeste Tante verfüttern, falls sie je wieder aufwacht!« Hunibald war in der Tat tief gekränkt. Schmollend verschränkte er die Flügel vor der Brust.
»Ach, komm schon, werter Hunibald! Erzähle mir mehr von Halloween und von dem Fürst der Dunkelheit«, bat Linny.
»Ha, Halloween! Du wirst früh genug erfahren, welche Bedeutung diese Nacht für uns alle haben wird. Denn in eben dieser Nacht kehren die Toten aus dem Jenseits zurück! Und falls es stimmt, was der Sicherheitsrat der Vereinten Magischen Emirate befürchtet, so wird das Gleichgewicht zwischen Gut und Böse schon sehr bald empfindlich gestört werden, denn in der Nacht darauf, zwischen Allerheiligen und Allerseelen, beginnt der Widerstreit zwischen Licht und Schatten. In diesem Jahr wird der dunkle Fürst aus der schwarzen Flamme des Lodoun auferstehen, und seine Seele wird vom Körper eines Unschuldigen Besitz ergreifen.«
»Das klingt nicht gut.« Linny lief ein Schauer den Rücken hinunter.
»Nicht gut? Pah! Das dürfte die Untertreibung des Jahrtausends sein!« Mit diesen Worten flog Hunibald von seinem Stuhl auf. »Und nun überlasse ich dich deinem Zweifel, mein Kind!«
Der Papagei hatte kaum zu Ende gesprochen, da drängte ein orkanartiger Windstoß durch das Fenster, das Linny vor wenigen Minuten mühsam geschlossen hatte, und öffnete es mit lautem Getöse. Der Wind wirbelte nasses Laub und Regentropfen wie kleine Eispfeile durch das Fenster hindurch in den Raum hinein. Hunibalds Hemd wurde aufgewirbelt und durch das kleine Zimmer gefegt.
»Ach komm schon, Hunibald, bleib noch etwas! Es wird ja gerade erst richtig spannend!« rief Linny aus.
Doch Hunibald ließ sich nicht umstimmen.
»Warte auf ein Zeichen«, krächzte er Linny verheißungsvoll zu, bevor er sich von den tobenden Elementen zum Fenster hinaustragen ließ.
»Hunibald! Hunibald! So warte doch, du hast dein Hemd vergessen!«
Linny war zum Fenster gestürzt und schrie ihre Worte in die Nacht hinaus, doch der tosende Wind verschlang begierig ihre Stimme.
Während der Nacht wälzte Linny sich unruhig in ihrem Bett hin und her. Die Ereignisse des Abends kreisten in ihrem Kopf und ließen sie nicht zur Ruhe kommen. Linny fragte sich, ob ihre Mutter tatsächlich im Kampf gegen den Schwarzmagier Samuel Slaughtermain ums Leben gekommen war? Hatte sie wirklich und wahrhaftig übersinnliche Fähigkeiten besessen? War es möglich, daß es neben der wirklichen Welt noch eine andere, eine magische Welt voller Hexen und Zauberer gab? Nein, welch ein Unsinn! Sicher hatte sie das alles nur geträumt! Hexen und Zauberer gab es nur im Märchen. Und Magie gab es so wenig wie fliegende Untertassen und sprechende Papageien! Mit diesem Gedanken schlief Linny ein.
2. Kapitel Die große Stille
Am anderen Morgen erwachte Linny mit der festen Überzeugung, daß sie sich den nächtlichen Besucher und seine magisch-düstere Geschichte von einer dunklen Bedrohung nur eingebildet hatte. Ihre Phantasie hatte ihr einen Streich gespielt, dessen war sich Linny ganz sicher. Trotz alledem konnte sie es kaum erwarten, ihrem besten Freund von ihrem Traumerlebnis zu erzählen. Sie mußte unbedingt in Erfahrung bringen, was Contardo über Magie und Hexerei wußte und was er davon hielt. Linny war in Gedanken so sehr mit den Ereignissen der vergangenen Nacht beschäftigt, daß sie ganz und gar vergaß, nach ihrer Tante zu sehen. Sie verließ das Haus, ohne zu frühstücken. Bereits auf dem Weg zur Schule wurde Linny klar, daß etwas nicht stimmte. Einige der Häuser, an denen sie vorbeikam, waren zerstört, Türen aus den Angeln gehoben, Fensterglas lag in tausend Splittern auf den Straßen und Bürgersteigen, Autos standen verlassen und ausgebrannt am Straßenrand, einzelne Bäume waren entwurzelt, Straßenlaternen umgestürzt. Kurzum: es war ein Bild der Verwüstung! Linny war entsetzt. Überall schien das Chaos gewütet zu haben. Die Straßen waren wie leergefegt. Keine Menschenseele war zu sehen, kein Lüftchen rührte sich. Es herrschte Totenstille über der Stadt. Das Mädchen erschauerte. War das das Werk des Sturmes? Und wo waren all die Leute geblieben, die an diesem Morgen hätten zur Arbeit gehen müssen? Auf der Straße fuhren keine Autos, kein Mensch und kein Tier war zu sehen, die Stille war erdrückend. Es war, als habe jemand mit unsichtbarer Hand eine Momentaufnahme der Zeit auf Leinwand gebannt. Alles war so unwirklich. Die Welt schien wie erstarrt.
Als Linny das Schulgebäude erreicht hatte, bot sich ihr auch dort das Abbild einer gespenstischen Stille. Das Gebäude war menschenleer. Da waren keine Schüler, die geschäftig auf dem Schulhof umherliefen und wild durcheinanderschwatzten, da waren keine Lehrer, die die Schüler mahnend zur Ordnung riefen, und kein Hausmeister, der über das Gebäude wachte. Wie war das möglich? Wo waren sie alle geblieben? Es schien, als sei Linny der letzte Mensch inmitten einer Geisterstadt. Es war wie verhext !
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