»Also gut, meine Tante trinkt. Aber sie hat auch allen Grund dazu. Sie hat Mamas Tod noch nicht verkraftet«, verteidigte Linny ihre Tante. »Meine Tante Verula hing sehr an ihrer Schwester. Ihr Tod war ein schmerzlicher Verlust für sie. Aber damit nicht genug! Der Verlobte meiner Tante ist ebenfalls bei einem Unfall ums Leben gekommen. Tante Verula hat zwei der wichtigsten Menschen verloren. Und das in ganz kurzer Zeit! Mag sein, daß sie trinkt, weil sie mit der Realität nicht fertig wird, aber das ist doch verständlich. Man kann es ihr nicht verübeln, daß sie im Alkohol einen Trost sucht. Aber das ist noch lange kein Grund, sie als ›Schnapsdrossel‹ zu beschimpfen! Sie trinkt, weil sie all die Schicksalsschläge nicht verkraftet hat.«
»Tse! Nicht verkraftet?! Und was war es, das sie vor Annabellas Tod nicht verkraftet hat? Das Wetter in Deutschland?«
»Nun werde mal nicht sarkastisch! Sie ist ein sensibler Mensch«, behauptete Linny.
»Pah! Ein schwacher Charakter ist sie! Nichts weiter! Und du, Hexenanwärterin!? Kennst nicht einmal den Unterschied zwischen Sarkasmus und Zynismus!«
»Also gut, denk meinethalben von Tante Verula, was du willst! Oh! Da fällt mir ein: Ich habe da etwas für dich-« Linny war vom Bett aufgestanden. Sie ging zur Kommode, öffnete eine Schublade und kramte darin. Eine Staubwolke stieg auf.
»Aha, soso. Das wird ja immer besser! Ich sehe, Sauberkeit ist auch nicht gerade deine Stärke!« höhnte Hunibald.
»Na und?« Linny zuckte die Achseln. »So ein bißchen Staub und Schmutz sind doch nicht weiter schädlich. Im Gegenteil: Schmutz hält das Immunsystem auf Trab! Sagt jedenfalls Tante Verula.«
»Also, bitte! Das ist mir ja eine schöne Erziehung!« Hunibald schüttelte den Kopf.
Nach einer kleinen Weile hatte Linny endlich gefunden, was sie gesucht hatte. Sie holte eine Schachtel mit Cognacbohnen aus der Schublade hervor, strich den Staub vom Deckel, öffnete sie und bot Hunibald eine Praline an.
»Pah! Süßigkeiten! Ein magerer Ersatz für meinen Nachttrunk! Wie lange liegen die da schon? Sind die überhaupt noch frisch? Oder ist die Packung etwa abgelaufen?«
Hunibald rümpfte den Schnabel. Linny zog die Stirn in Falten und warf einen Blick auf das Haltbarkeitsdatum der Pralinen.
»Keine Sorge, alles im grünen Bereich!« sagte sie. »Aber selbst wenn sie abgelaufen wären, da ist so viel Alkohol drin, der desinfiziert von innen!« Linny grinste schelmisch.
»Da kennst du meinen empfindlichen Magen aber schlecht!« Der Papagei ließ den Kopf von einer Seite zur anderen pendeln.
»Nun rede schon, Hunibald, wieso ist dir meine Hexentaufe so wichtig? Und wieso glaubst du, daß die weiße Magie ausgerechnet mich in ihrer Gefolgschaft braucht?« wollte Linny wissen. »Immerhin glaube ich gar nicht an Übersinnliches!«
»Da haben wir ’s! Die Jugend von heute glaubt nicht an Magie! Das ist erschütternd! Was ist nur aus der Welt geworden?!«
Hunibald schüttelte mit einem leidenden Gesichtsausdruck das Haupt. Bevor er weitersprach, tat er einen tiefen Seufzer: »Gerade jetzt wäre es wichtiger denn je, den magischen Nachwuchs von der Macht der dunklen Bedrohung und von der Dringlichkeit des Problems zu überzeugen! Also höre und schaudere, Linny Witt! Es kursiert das Gerücht, daß Lady Tyrannice van Slaughtermain, die Schwester des Schwarzen Fürsten, die dunkle Seele ihres Bruders zu nie dagewesener Stärke heraufbeschworen hat! Mit Hilfe der Bruderschaft des Schwarzen Blutes sucht sie nach einem neuen Gefäß, einem neuen Körper für ihren Bruder, der in eine Zwischenebene verbannt wurde. Seine Reinkarnation zu verhindern, ist das dringlichste Ziel der Anhängerschaft der Weißen Göttin.
Es heißt, die Hohepriesterin selbst habe unlängst den Ritterorden der Wanhannaee-Acht rekrutiert, um das Schlimmste zu verhindern. Doch werden die acht Ritter allein und ohne unsere Unterstützung nicht viel gegen die dunkle Übermacht ausrichten können, sobald an Halloween die Hölle aufbricht und ihre schwarze Schar freigibt.
Einzig die Macht des Kaskadenringes wäre imstande, das Aufbrechen der dunklen Kräfte aufzuhalten. Am Finger des Königs von Wanhannaee könnte der Ring den Zusammenhalt der weißen Gemeinde stärken und damit uns alle retten-«
»Also, ich weiß nicht«, meinte Linny skeptisch, während Hunibald seinen Schnabel in die Pralinenschachtel steckte. »Für mich klingt das alles ein wenig-«
»Gruselig?« vervollständigte der Papagei, der von den Cognacbohnen aufstoßen mußte.
»-unwahrscheinlich«, sagte Linny vorsichtig. Sie glaubte nicht recht an Gespenster, Hexen und Dämonen. Ihr Leben war auch ohne Magie kompliziert genug. Sie vermißte ihre Mutter jeden Tag auf so bitterliche Weise, daß sie zuweilen glaubte, nie wieder glücklich sein zu können. Linny bemühte sie sich mehr denn je, in der Schule gute Noten zu bekommen. Sie wollte das Abitur bestehen und studieren. Ihre Mutter hatte ihr stets versichert, wie wichtig eine solide Schulbildung sei. Außerdem wurde Linny von großen Zukunftsängsten geplagt, seit ihre Mutter ums Leben gekommen war. Nein, sie würde sich von einem hergeflogenen Papagei, der von dunklen Kräften und schwarzer Magie faselte, auf keinen Fall von ihren Zielen abbringen lassen. Sie, Linny Witt, war keine Träumerin! Trotzdem, ihre Neugier war geweckt: Irgend etwas in Hunibalds Worten übte eine starke Faszination auf das Mädchen aus.
»Du glaubst mir nicht!« stellte Hunibald fest und hob die Flügel. »Na, schön! Ich habe lediglich versucht, dir den Einstieg in die Hexenschaft zu erleichtern. Aber wenn du unbedingt die harte Tour einschlagen willst, bitte, meinetwegen!«
»Sagen wir: ich bin skeptisch. Einen Skeptiker könnte man überzeugen«, lenkte Linny ein. Sie mußte sich selbst eingestehen, daß die Erzählungen des Papageis ihr Interesse geweckt hatten. Selbstverständlich würde sie ihm kein Wort glauben, aber trotz aller Vorbehalte war seine Geschichte doch so spannend, daß Linny unbedingt wissen wollte, was es mit der Auferstehung des Schwarzen Fürsten auf sich hatte. Außerdem freute sie sich darauf, ihrem besten Freund Contardo morgen nach der Schule die spannende Geschichte von dem nächtlichen Besucher und seinen magischen Botschaften zu erzählen.
»Woran erkennt man nun diesen besonderen Ring? Und wer besitzt ihn?« erkundigte sich Linny.
»Ich hoffte, du könntest mir diese Frage beantworten!« seufzte Hunibald.
»Ich? Du machst wohl Witze!« entgegnete das Mädchen.
»Niemals würde ich mir erlauben, in einer so heiklen Frage zu scherzen, das darfst du mir glauben, Lalinda!« sprach Hunibald mit theatralischer Stimme. »Doch, um deine Frage zu beantworten, meine Liebe, mit dem Kaskadenring verhält es sich so: Meinen Informationen zufolge, befand er sich zuletzt im Besitz deiner seligen Mutter. Und nun hoffte ich, du wüßtest, wo er zu finden sei. Selbst wenn du persönlich nicht an magische Zusammenhänge glaubst, so mußt du doch einsehen, daß es angesichts der drohenden Gefahr äußerst ratsam wäre, den Ring vor dem Zugriff der finsteren Mächte zu bewahren. Das leuchtet dir doch ein, hm? Doch um den Ring in Sicherheit zu bringen oder ihn zumindest mit einem magischen Schutzbann versehen zu können, müßten wir zuallererst einmal wissen, wo er sich befindet.«
»Wer ist wir ?« fragte Linny, die den Worten des Papageis aufmerksam gefolgt war.
»Ähm, nun ja, ich , wollte ich gesagt haben«, stammelte der Papagei. »Ich bin schließlich dein Taufpate und der langjährige Freund und Begleiter deiner lieben Mama!«
»Das sagst du! Woher weiß ich, daß du mir keine Märchen erzählst? Meine Mutter hat dich jedenfalls zu ihren Lebzeiten mit keinem Wort erwähnt. Und sie hat noch weniger verfügt, daß ihr Ring die Familie verlassen soll«, stellte Linny abwehrend fest.
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