„Was ist mit dem Schraubengeräusch?“
„Wandert nach 130 Grad aus, scheint schnell zu tauchen, Geräusch wird leiser.“
Haberkorn wusste, dass die G7-Torpedos ungefähr 40 Knoten schnell waren, das entsprach mehr als 70 Kilometern in der Stunde. In einer Sekunde schaffte so ein Geschoss um die 20 Meter. Das andere Boot musste die Torpedos also theoretisch bei zirka 400 Metern Entfernung vom Zerstörer losgemacht haben, ein Kamikazeangriff. Womöglich war die Entfernung doch größer gewesen, denn die Männer hatten keine Informationen über die Positionen der beiden Fahrzeuge und ihre Kurse zu diesem Zeitpunkt. Keiner von ihnen konnte wissen, dass das andere Boot zwei G7es abgefeuert hatte, die ersten Torpedos mit Akustiklenkung, die auf die Schraubengeräusche der Schiffe ansprachen. Der Horcher hatte auch richtig mitbekommen, dass das andere Boot schnell auf Tiefe gegangen war, denn das war Vorschrift, weil diese „Zaunkönig“ genannten Torpedos nur eine Sperrstrecke von 400 Metern, in denen die Geschosse noch nicht scharf waren, besaßen. Jeweils fast 300 Kilogramm Schießwolle waren durch die Aufschlagzünder an der Bordwand des Zerstörers hochgegangen und hatten diese aufgerissen.
Das Geräusch über ihnen hatte sich geändert. Durch den Kurs des Bootes blieb es hinter ihnen zurück aber es war klar zu hören, dass die Konstruktion des Schiffes jetzt kollabierte. Das typische Brechen der Schotten kannte Haberkorn von früheren Unternehmungen her, dieses Schiff war nicht mehr zu retten, es schien über den Achtersteven zu sinken. Der Kommandant hatte Sehrohrtiefe befohlen und nach der Horchpeilung fuhr er das Persikop aus.
„Schraubengeräusch ist wieder zu hören, 30 Grad. 800 Meter.“
„Auftauchen, Druckausgleich. Brückenwache aufziehen, ich gehe mit hoch, der Oberleutnant auch.“
Der II. WO hatte das Turmluk geöffnet. Ein Schwall kalter Luft stürzte in das Boot hinein. Haberkorn sog seine Lungen voll und sah auch, wie eine Wolke mit Partikel versetzter und ihm gelblich erscheinender Luft aus dem Boot aufstieg. Als er auf dem Turm stand sah er keine 1.000 Meter entfernt an Steuerbord ein brennendes Schiff im Wasser treiben. Es lag achtern tief im Wasser und ein Teil des Hinterschiffes schien abgeknickt zu sein. Er nahm das Glas vor die Augen und erkannte Gestalten, die sich noch auf dem Deck aufhielten und im Wasser treibende Punkte. Zwischen den Punkten sah er Flöße.
„Der bleibt nicht mehr lange oben“ sagte der Kommandant tonlos „dem hat es die Antriebs- und Ruderanlage total zerlegt und er liegt schon bis zum Mittelschiff fast unter Wasser. Hier gibt es nichts mehr zu tun. Wir sehen uns nochmal unseren Helfer in der Not an, dann setzen wir uns schnellstens hier ab. Die auf dem Zerstörer haben noch gefunkt oder können sogar noch funken, falls da noch Hilfsmaschinen in Betrieb sind.“
Das Boot nahm Fahrt auf, steuerte von dem sinkenden Schiff weg und nahm Kurs auf das andere Boot.
„Klappbuchs hoch!“
Als sich beide Boote in einem Abstand von 80 Metern befanden schickte der Kommandant eine Nachricht nach drüben.
„Rettung in höchster Not! Wir danken Ihnen.“
„Warum so förmlich, Dieter“ kam es zurück „war schon knapp. Aber man hilft doch gern.“
„Das ist Feldmann“ freute sich der Kommandant „verrückter Hund, ziemlich wagemutig, aber kein blinder Draufgängern.“
Dann blinkte er wieder hinüber.
„Danke, Werner. Wir versuchen jetzt wieder ranzukommen.“
„Braucht ihr Hilfe?“
„Nein, kriegen wir mit Bordmitteln hin.“
„Gute Jagd!“
„Euch auch!“
Wieder in der Zentrale zurück besprach der Kommandant mit dem LI die Liste der Reparaturarbeiten. Die Wassereinbrüche würde man zunächst provisorisch abdichten können, die anderen Schäden waren relativ schnell zu beseitigen. Jetzt kam es erst einmal darauf an die Batterien laden, das Boot gründlich durchzulüften, wieder an das Geleit heranzukommen und höchste Aufmerksamkeit auf Flugzeuge zu richten. Alles an Bord schien wieder einer gewissen Routine zu folgen, aber den Männern steckten noch die Schrecken der Wasserbombenverfolgung in den Knochen. Die Boote tauschten Kurzmeldungen aus, es war ohnehin bekannt, dass sie am Geleit standen. Die ersten Schiffe waren schon versenkt worden und niemand von den Männern an Bord der Boote und im Stab des BdU ahnte, dass man in Bletchley Park verzweifelt auf diese Meldungen der deutschen Boote wartete, um über die „Bomben“ genannten Entschlüsselungsmaschinen endlich wieder in der Code der Enigma einbrechen zu können. Die Alliierten waren sogar bereit den Verlust weiterer Schiffe in Kauf zu nehmen, denn aus den wenigen Meldungen konnten sie noch keine richtigen Schlüsse ziehen.
Etliche Meilen von Haberkorns Boot entfernt war der Zerstörer gesunken. Einige der Überlebenden hockten auf Flößen, viele trieben im kalten Wasser. Der Geleitzugführer wusste, dass mehr als 10 deutsche U-Boote in der Nähe des Konvois auf Beute lauerten und es würden garantiert noch mehr dazukommen. Wenn er die Sicherung jetzt weiter entblößen und ein Schiff zur Rettung der Männer des Zerstörers abstellen würde könnte das furchtbare Folgen für die Frachter haben. Der 50jährige Brite rang eine Weile mit sich, dann kommandierte er eine Korvette zur Rettung der Männer ab. Er würde es nie überwinden können, wenn er diesen Entschluss nicht so getroffen hätte und vielleicht mehr als 200 Seemänner ohne Hilfe ihrem Schicksal überlassen hätte.
Günther Weber, 4. August 1943, bei Borissowka/Gruzskoje
Er war ohne allzu große Hoffnungen auf ein einfaches Gelingen in den Kampf gegangen, aber erstaunlicherweise hatten die Russen weniger Kräfte als vermutet an der Ausbruchsstelle am Westrand des Kessels konzentriert, weil sie auch mit einem Angriff der Deutschen im Süden gerechnet hatten. Die vor Weber und seinen Männern vorgestürmten Einheiten hatten dem Gegner sogar einige empfindliche Schläge versetzen können, so dass dessen Attacken aus den Flanken schwach ausfielen und die deutschen Verluste so recht gering geblieben waren. Der Befehl hatte gelautet, nach der Überwindung der Sperren des Feindes in südlicher Richtung auf das etwa 15 Kilometer entfernte Gruzskoje vorzurücken, sich dabei an die dorthin verlaufende Eisenbahnstrecke anzulehnen und den Ort zu sichern. Nordöstlich von ihnen mussten aber auch noch deutsche Truppen stehen, denn er hatte seit früh an aus dieser Richtung heftigen Gefechtslärm gehört. Alles in allem waren die Russen ganz klar darauf aus, Charkow wieder einzunehmen. Vermutlich war jetzt mit ständig wechselnden Lagen zu rechnen, denn die deutsche Front war an vielen Stellen zerrissen worden und die Einheiten versuchten sich irgendwie wieder zu organisieren und eine geschlossene Abwehr aufzubauen. Gruzskoje lag auf einer senkrechten Linie mit Charkow und war von dort gut 100 Kilometer entfernt. Schnelle mechanisierte Einheiten sollten in der Lage sein, diese Strecke in kurzer Zeit zu überwinden. Der Ort selbst war eine Ansiedlung von einigen an einer gut 2 Kilometer langen schnurgeraden Straße liegenden Häusern und weiteren im Gelände verstreuten Bauernhöfen. Das Terrain an sich war gut zur Verteidigung geeignet, denn der ungefähr 100 Meter östlich neben dem Ort gelegene Bahndamm stellte einen kleinen Wall dar, auf dem sich die Infanterie eingegraben hatte. In bestimmten Abständen zwischen den Soldaten hatten sich auch Geschützbedienungen Stellungen geschaffen, so dass nur die Schutzschilde über den Boden ragten. Es waren in der Mehrzahl 7,5 Zentimeter PAK 40 die nach Osten hin freies Schussfeld hatten. Die Infanterie war mit etlichen MG 42 ausgestattet und in diesem Bereich gab es demzufolge eine ordentliche Feuerdichte. Das Vorfeld mit Minen zu sichern war nicht mehr gelungen. Einige Sturmgeschütze III hatten sich so positioniert, dass ihre Sturmkanonen nur knapp über die Gleisanlage emporragten. Zwei Batterien Artillerie hatten westlich des Ortes Stellung bezogen, ihre Beobachter lagen mit am Bahndamm. Telefonkabel waren keine gezogen worden, die Verbindung musste über Funk laufen. Im Norden des Örtchens hatten sich einige Panzer III und IV geschickt hinter Häusern aufgestellt. Im Süden gab es nur einen dünnen Schützenschleier, von dort erwartet man den Gegner nicht. Lediglich zwei PAK 40 waren dort postiert. Für Günther Weber sah das alles so aus, als würde die Truppenführung schon damit rechnen, sich wieder vor den überlegenen Kräften des Feindes zurückziehen zu müssen. Ob die knapp 400 deutschen Infanteristen und die wenigen schweren Waffen den Ort lange halten konnten war recht unwahrscheinlich. Noch konnten Verbände hin und her verschoben werden, aber sobald der Regen einsetzen und wieder alles im Schlamm versinken würde, würde eine Kampfpause eintreten. Die Russen würden die bis dahin verbleibende Zeit nutzen um noch möglichst große Geländegewinne erzielen zu können. Das war nur folgerichtig, lagen in dem jetzt umkämpften Gebiet doch wichtige Rohstoffe für die Rüstungsproduktion und das fruchtbare Schwarzerde Anbaugebiet.
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