„Oh, guten Tag, Frau Kommissarin“, sagte Juliano, als er die beiden in der Tür entdeckte. „Kommen Sie doch rein.“
„Nickich, Kriminalpolizei“, brummte Reiner und ging an dem jungen Mann vorbei in die kleine Küche.
„So sieht man sich wieder. Sie kommen wegen Natalie, nicht wahr?“
Er konnte seinen Blick nicht von Jennifer, die rot geworden war, lassen. Reiner sah, dass ihr die Begegnung unangenehm war und räusperte sich.
„Herr Nunnio, Sie kannten Natalie Bresionner? In welcher Beziehung standen Sie zu ihr?“
„Wir waren in keiner Beziehung, so, wie Sie sich das vorstellen. Ich habe sie in Italienisch unterrichtet. Sie kam ein bis zweimal die Woche, je nachdem, wie wir Zeit hatten. Wir haben uns immer spontan verabredet. Natalie hatte eine besondere Begabung für Sprachen. Sie wollte die Welt bereisen und auf ihrem Plan stand als nächstes Ziel Florenz. Ich wollte ihr helfen, eine Familie zu finden, bei der sie dort die Kinder betreuen konnte. Sie liebte Kinder über alles.“
„Das hört sich ganz nett an, aber Sie müssen verstehen, dass wir jeder Spur nachgehen.“
„Ich verstehe das, natürlich, aber glauben Sie mir, ich habe mit Natalies Tod nichts zu tun.“
„Wann haben Sie zuletzt Italienisch gelernt?“
„Darüber habe ich schon nachgedacht. Es war Mittwoch. Sie kam gegen sechs und ging gegen halb neun.“
„Wohin ist sie dann gegangen?“
„Keine Ahnung, ich denke, nach Hause. Oder zu ihrem Freund.“
„Sie kennen Frederick?“, fragte jetzt Jennifer. „Was wissen Sie über die beiden?“
„Ähm, wir haben Italienisch gelernt und uns über alles, was war, in dieser Sprache unterhalten. Natürlich hat sie ihren Freund und ihre Freudinnen erwähnt, aber nur, um zu sprechen. Konversation ist sehr wichtig.“
Dabei lächelte Juliano die Kommissarin so an, dass sie den Blick abwenden musste.
„Danke, das war es fürs Erste“, warf Reiner ein, um Jennifer zu retten.
Vor der Tür stieß er sie an.
„Der ist ja vollkommen in dich verschossen. Sag mal, wie seid ihr euch nochmal begegnet?“
„Hör auf! Ich finde ihn nett, aber das war es auch schon.“
Jennifer hatte bemerkt, wie sie auf Juliano wirkte und sie konnte das gar nicht einordnen. Mochte er sie wirklich? Wie sollte sie mit ihm umgehen? Schließlich war er ein Verdächtiger. Aber eines wusste sie ganz genau: Sie würde sich nicht erneut auf jemanden einlassen, der mit einem Fall in Verbindung stand. Andererseits war sie irritiert, welches Kribbeln sich in ihrem Bauch ausgebreitet hatte, während er sie so ansah. Sie schüttelte sich, um ihre Gedanken von Juliano loszureißen.
„Lass uns jetzt die Freundinnen befragen. Vielleicht wissen sie, wohin Natalie nach ihrem Unterricht und am Donnerstag zwischen dem Fußballtraining und der Verabredung mit Frederick gegangen ist.“
Reiner spürte Jennifers Verwirrung und wollte nicht weiter auf dem Thema Juliano herumreiten, darum nickte er und setzte sich ans Steuer.
Im Supermarkt erfuhren Reiner und Jennifer, dass Linda Kröwert krankgeschrieben war. Sicher hatte sie der Tod der Freundin aus der Bahn geworfen. Also fuhren sie zu der jungen Frau nach Hause. Sie wohnte noch bei ihren Eltern im Johannesgraben. Ihre Mutter öffnete und brachte sie zu Linda ins Kellergeschoss, wo sie eine eigene kleine Wohnung hatte. Die junge Frau lag in einem großen pinkfarbenen Bett und schlief. Jedenfalls hatte sie die Augen geschlossen, aber als die drei eintraten, fuhr sie hoch.
„Mutter, was soll das?“, fauchte sie. „Ich habe dir schon tausendmal gesagt, du sollst hier nicht einfach reinkommen. Was sind das für Leute? Sag mal, geht’s noch?“
„Beruhigen Sie sich“, sagte Reiner laut. „Ich bin Kommissar Nickich, das ist meine Kollegin, Kommissarin Fonnach, wir kommen wegen Natalie.“
„Ach so“, knurrte Linda, schickte ihre Mutter weg und setzte sich mit dem Rücken gegen die hohe Lehne des Bettes.
Sie zog die Knie an und schlang die Arme darum. Dann nickte sie mit dem Kopf in Richtung der Couch, um den Kommissaren einen Platz anzubieten.
„Sie sind krank?“, begann Reiner.
„Was denken Sie denn? Ich gehe doch nicht zur Arbeit! Es war am Samstag schon die Hölle! Da hatte ich Spätschicht und erfuhr hinter der Kasse davon, dass Natalie tot ist.“
„Oh, das ist böse, wer hat Ihnen denn davon erzählt?“
„Laura, Julianos Schwester.“
Reiner und Jennifer schauten sich an. Das war sicher die junge Frau, die aus der Wohnung gekommen war, als sie bei dem Italiener waren. Jennifer atmete auf, war ihr doch der Gedanke gekommen, dass es seine Freundin gewesen sein könnte. Das hatte ihr irgendwie nicht gefallen, zumal die Frau sehr gut aussah und perfekt zu Juliano passte.
„Woher wusste sie davon?“
„Von Juliano. Der ist Lehrer hier in Nastätten.“
„Ich weiß“, entgegnete Reiner, „ich bin immer wieder überrascht, wie schnell so eine Tat die Runde macht und woher die Leute ihre Informationen haben.“
„Tja, Nastätten ist eben keine anonyme Großstadt.“
„Das stimmt. Erzählen Sie ein bisschen über Natalie!“
„Sie war ein Engel. Immer gut drauf, lustig, lieb und sie hat jeden Spaß mitgemacht.“
„Zum Beispiel?“
„Ich weiß gar nicht, ob ich Ihnen das sagen darf …“
„Sie dürfen mir alles sagen, ich bin die Polizei. Sollten Sie mir etwas verschweigen, was den Fall betreffen könnte, werde ich ungemütlich.“
„Es gibt da einen Mann, der denkt, der kann alle Frauen haben, vor allem die jungen. Der ist schon mega alt und es ist uncool, dass er immer die besonders jungen Frauen anbaggert. Er denkt, er ist sonst wie toll. Wir haben ihn ein bisschen verarscht, weil er auch an Natalie interessiert war.“
„Name?“
„Andreas Öckertz.“
„Wohnt in?“
„Irgendwo hier in Nastätten.“
„Wie haben Sie ihn verarscht?“
„Er hat uns in eine Bar eingeladen und wir haben nur die teuersten Sachen getrunken. Wir haben gesagt, er kann uns nur zu dritt haben. Natalie hat ihn dann in dem Glauben gelassen, dass sie ihn mag. Als er pinkeln war, sind wir einfach abgehauen.“
„Sowas ist fies. Denken Sie, er könnte sich für den Korb gerächt haben?“
„Erst dachte ich: Wegen sowas bringt man doch keinen um. Aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher. Was ist denn, wenn er uns auch bestrafen will? Schließlich waren Marita und ich auch dabei.“
Jennifer sagte: „Ja, wegen so etwas bringt man niemanden um. Das denke ich auch. Da schreibt man etwas Böses in den sozialen Netzwerken und gut ist es. Wie war denn die Beziehung von Natalie zu Frederick Meineltz?“
„Ach, die waren total süß zusammen, aber das war noch ganz frisch. Hat man Natalie … ich meine …“
„Nein, sie wurde nicht vergewaltigt. Der Täter oder die Täterin muss ein anderes Motiv haben.“
„Täterin? Ich war es nicht. Natalie war meine Freundin! Und Marita würde auch niemandem etwas tun.“
„Davon war nie die Rede, Frau Kröwert“, brummte Reiner und legte ihr seine Karte auf den kleinen runden Glastisch.
Sie verabschiedeten sich und verließen das Haus. Mit neuer Energie machten sie sich auf den Weg ins Büro, um die Adresse von Andreas Öckertz herauszufinden.
Jennifer tippte den Bericht in den Computer, Reiner recherchierte.
„Oh, wir haben den Herrn in den Akten. Körperverletzung. Belästigung. Wie nett.“
„Ich bin gleich fertig, dann nehmen wir ihn uns vor.“
Weißt du, wo der wohnt? Im selben Mietshaus wie Bea Klümpert. Sicher kennt sie ihn.“
„Besuchen wir SIE doch mal.“
„Sie mag mich nicht.“
„Das ist dir sonst auch egal.“
Reiner grinste. Jennifer hatte recht. Aber Bea hatte immer einen bösen Blick, wenn sie ihn sah. Er hatte wohl irgendetwas zu ihr gesagt, was sie in den falschen Hals bekommen hatte. Vielleicht würde er Undine fragen, was das gewesen war.
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