„Peaceman“, meinte Hernandez, „ich glaube, der offizielle Teil der Feier ist damit durch.“
„Stanley“, fragte ich, „kennen Sie den kürzesten Weg zum Flughafen?“
„Surest thing you know.“
Und weg waren wir.
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Stanley hat übrigens kurz darauf einen Fünf-Jahres-Vertrag als Privatsekretär von Hernandez unterschrieben. Die Finanzierung seines Cafés in Dubuque war bereits mit der Unterschrift gesichert.
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Oliviers Vater hatte es zweimal auf die Titelseite einer bekannten Zeitschrift geschafft. Das erste Mal zierte sein dominantes Kinn das Forbes-Magazin über dem Titel „Jüngster Junk-Fonds-Milliardär“. Das zweite Mal prangte sein deutlich unvorteilhafteres Portrait auf der New York Times: als reichster Wirtschaftskrimineller, dessen im Polizeigewahrsam begangenen Selbstmord das NYPD zu beklagen hatte. Wenn auch die SEC das Familienvermögen eingefroren hatte, war Oliviers luxuriöse Zukunft Dank der rekordverdächtigen Schadensersatzzahlung des Staates New York gesichert.
Olivier hatte die kriminellen Machenschaften seines alten Herrn stets aufs Entschiedenste verurteilt und jegliche monetären Zuwendungen von ihm brüsk zurückgewiesen. Er war also ganz auf die Naturaleffekte Daddys stinkenden Reichtums beschränkt gewesen. Dem Erfolg der Staatshaftungsklage verdankte er die Gewissheit, über sauberes Geld zu verfügen.
„Weißt du, Peaceman, es ist ein gutes Gefühl, als anständiger Mensch anständiges Geld auszugeben."
„Olivier, ich glaube manchmal, Du bist der einzige von uns, der sich in diese Art von Leuten hineinversetzen kann, die abends ihr hart erarbeitetes Brot brechen und dabei so richtig rechtschaffen zufrieden sind."
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Olivier lernte ich in Genf kennen. Hernandez hatte mich überredet, zu einer Vernissage in eine dieser zauberhaften an der Nordseite des Lac Leman gelegenen Villen mitzukommen. Er selbst war dann aber auf seinem Chalet bei Chamonix in einer Schneewehe oder einem Skihasen stecken geblieben. Ich stand etwas verloren mit meinem Champagner im Salon und versuchte, mein zartes ästhetisches Empfinden vor den abstoßenden „Installationen“ des uns von der Gastgeberin als ausstellenden Künstler vorgestellten Geschmacksverbrechers zu schützen. Zu diesem Zweck vertiefte ich mich in die zur Einrichtung der Villa gehörende mutmaßliche Replik eines Bildes von Lorenzo Lotto. Das Gemälde stellte einen jungen Mann in seinem Studierzimmer dar. Unter seinem Wams trug der Portraitierte ein leichtes weißes Hemd mit über den Handgelenken gerafften Ärmeln und einem bis zum Hals geknöpften schmucklosen Rundkragen.
„Schickes Hemd, nicht wahr?“, sagte jemand, der sich, von mir unbemerkt, hinzugesellt hatte. Ich blickte nach rechts und sah einen sehr lässigen Mann, der über einer schwarzen Leinenhose ein ähnliches Hemd trug, wie das, welches den Portraitierten kleidete. Ich entgegnete: „Oh, wie ich sehe, haben Sie denselben Schneider.“
Wir hatten uns gerade miteinander bekannt gemacht, als sich der Günstling der Hausherrin bemerkbar machte: „Hallo!“
„Selber Hallo.“, murmelte ich, was ihn leider nicht abschreckte. Er ließ nicht locker: „Aber, aber! Sie sind doch nicht hier, um sich mit billigen Kopien alter Schinken zu langweilen. Was hier an den Wänden hängt, ist tote Leinwand – und nicht mal echt. Sehen Sie sich meine Werke an: Das ist relevante Kunst.“
Olivier und ich wandten uns unangenehm berührt dem Störenfried zu. Er sah aus wie manche Künstler meinen, aussehen zu müssen. Olivier ließ seinen Blick über die im Salon aufgestellten Konstruktionen schweifen und fragte: „Das also sind Ihre Werke?“
„Genau.“
Dann bewegte Olivier sich nachdenklich zu einem an der jenseitigen Wand stehenden Deckenfluter, legte den Kopf leicht schräg und sprach mit Blick auf den Maestro: „Ein wirklich gelungenes Design.“
„Ja, ja. Sehr hübsch“, wurde er verärgert beschieden, „aber jeder Trottel erkennt, dass das keine Kunst ist.“
„Wie das?“, mischte ich mich ein.
„Weil“ – der gute Mann bewegte sich auf unsicheres Terrain – „weil der künstlerische Mehrwert fehlt.“
„Das sehe ich ein“, log ich ihm offen ins Gesicht, „Vielleicht sind Sie so freundlich, das dem jungen Herrn an der Stehlampe einmal an einem Ihrer Werke zu demonstrieren.“
Olivier sandte mir einen vergnügten Blick zu und meinte: „Mag sein, dass das helfen würde.“
„Ja, gerne“, akzeptierte das ahnungslose Opfer unseres Schabernacks seine Rolle: „Ich schlage vor, wir sehen uns einmal dieses Objekt an.“ Damit wies er auf einen in der Mitte des Raumes platzierten großen durchsichtigen Plastikeimer, der zu zwei Dritteln mit einer honiggelben, zähen Flüssigkeit gefüllt war, in der kopfüber bis zum Bauchnabel eine nackte Barbiepuppe stak. Das rechte Bein der Puppe war mit einem kleinen hölzernen Fahnenmast verlängert, der ein Schild trug mit der Aufschrift „Dead Puppet Drowning“.
Olivier und ich traten gesenkten Hauptes vor die Scheußlichkeit und gönnten dessen Urheber gemessene Sekunden vermeintlich respektvollen Schweigens.
„Oh, ha!“, brach es dann aus mir heraus.
„In der Tat“, pflichtete Olivier mir bei.
„Sehen Sie?“, hob ich an, „die Doppelgründigkeit erweist sich schon im Titel.“
„Lassen Sie hören!“ ermunterte mich Olivier.
„Nun“, fuhr ich fort, „Ertrinken bezeichnet eine Art des Übergangs vom Leben zum Tod, setzt also Leben voraus.“
„Hört, hört!“
„Puppen aber leben nicht.“
„Ach so. Ich verstehe“, fiel Olivier ein, „deshalb heißt es ja auch ‚tote Puppe‘. Nicht wahr?“
„Genau: Minus und Minus ergibt Plus.“
„Ja. Und dadurch wird die Puppe quasi lebendig.“
„Ja. Und kann sterben.“
„Ja. Und ertrinken.“
„Ja. Toll.“
„Entschuldigung!“, der Blödmann versuchte, in die Exegese seiner Schöpfung einzugreifen, „also eigentlich ist dieses Werk Ausdruck der …“
Er wurde sogleich von Olivier ausgebremst: „Sagen Sie, ist es nicht so, dass sich der Künstler in seinem Werk entäußert?“
„Oh, ehmm, sicher, emhmmja? Ja.“ Der Gedanke schien ihm zu gefallen. Er hob an, fortzufahren: „Ich will sagen…“
„Nein bitte!“, fiel ich ihm ins Wort, „tun Sie das nicht!“
„Höh?“
„Sie bestätigten soeben, dass sich der Künstler in seinem Werk entäußert. Er kann sich mithin nicht mehr qualifiziert ü b e r selbiges äußern.“
„Also…“
„Gilt das eigentlich für alle Künstler?“, wollte Olivier wissen.
„Ja. Ja“, bestätigte ich freudig erregt, „sogar für Ballkünstler.“ –
„Bitte?“ Der Puppentöter war angezählt.
„Aber ja doch“, erklärte ich ihm geduldig: „wenn so ein Ballkünstler das goldene, das perfekte Tor schießt, das alle Herzen höher schlagen lässt und ihn zum Gott verklärt, dann stürzt er sich kopfüber vom Olymp, wenn er anschließend dem Sportreporter seine Großtat erläutern will. Er wird etwas sagen wie ‚Und dann denkich, Mensch, denkich, den machich rein. Boaheh. Und dann einfach rein die Murmel.‘ Verstehen Sie?“
„Das soll doch Ihnen nicht passieren“, ergänzte Olivier.
„Gott behüte!“ schüttelte ich den Kopf. In stillem Einverständnis wandten Olivier und ich uns vom Puppenmassaker ab und wieder der Lorenzo Lotto Replik zu. Das hatte Spaß gemacht. Still vergnügt betrachteten Olivier und ich wieder das Ölgemälde.
„Stimmt“, konstatierte ich.
„Was?“ fragte Olivier.
„Schickes Hemd.“
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Als Hernandez schließlich zu uns stieß, stellte ich ihm Olivier vor und lud die beiden ins Vertigo zum Abendessen ein. Wir drei verstanden uns prächtig und verbrachten einen beschwingten Abend miteinander. Spätestens nachdem Olivier uns erklärt hatte, seine Mutter habe seinen Vornamen gemäß dem Nachnamen ihres großen Idols Laurence Olivier ausgesucht, so dass man ihn bitte nicht französisch ‚Olivjeh‘ nennen möge, sondern aus Respekt vor seiner Mutter ‚Ollivvija‘, war klar, dass wir drei ausnehmend gut zusammen passen.
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