„Ich denke mal, dass heute Abend zum Dessert bolivianisches Marschierpulver serviert wird“, eröffnete uns Stanley.
Hernandez und ich waren nun gleichermaßen alarmiert.
„Man erwartet von uns, dass wir Drogen konsumieren?“, fragte ich.
„Na ja, Leute, es kommt nicht nur darauf, an, dass Ihr das Zeug nehmt, sondern wie Ihr es nehmt.“
„Was, meinst Du, Mann?“
„Das ist ein ganz spezieller Drogentest. Wer sich das Kokain wie ein Staubsauger reinzieht, gilt als unzuverlässiger Addict; wer sich weigert, gilt als noch unzuverlässiger.“
„Ach, ja“, verstand ich, „das ist die mexikanische Variante von ‚Wer niemals einen Rausch gehabt, ist auch kein braver Mann‘.“
Stanley sah mich zweifelnd an und Hernandez fragte: „Wie sollen wir das Zeug denn nehmen? Also, wenn ich so an die einschlägigen Filmszenen denke, geht das mit Kreditkarte und gerollten Geldscheinen auf dem Klo, oder?“
Stanley war sichtlich erstaunt: „Leute, ich schätze, solche Typen wie Ihr waren noch nie in diesen Mauern zu Gast. Ihr seid hier definitiv nicht am richtigen Ort.“
„Das hilft uns jetzt auch nicht weiter, Mann. Was sollen wir tun?“
„Am besten wäre es natürlich, sich ganz nonchalant eine Linie reinzuziehen, kurz anerkennend zu nicken und sich zurück zu lehnen.“
„Mmh, sollen wir das mal üben?“ wollte Hernandez wissen.
Stanley schüttelte den Kopf: „Keine gute Idee. Wer weiß, ob Ihr rechtzeitig wieder runterkommt. Kokain bringt die meisten Leute auf die schlechte Idee, zu meinen, sie hätten eine gute Idee. Ihr würdet Euch wahrscheinlich um Kopf und Kragen labern.“
„Und nun?“
„Keine Ahnung. Seid einfach vorsichtig.“
~
Gegen einundzwanzig Uhr fanden wir uns im Speisesaal mit vierzehn mehr oder minder düster blickenden Gestalten wieder.
Hernandez und ich trugen Abendkleidung. In meinem Fall hieß das: Dinner Jackett. Hernandez trug eine weinrote Paillettenjacke über einem gleißend gelben Rüschenhemd. Unvergleichlich. Die anderen sahen aus wie die beim Casting gescheiterten Bewerber für die Rolle der Blues Brothers. Als Hintergrundmusik lief eine Endlosschleife die uns abwechselnd mit der kleinen Nachtmusik und ‚Cherry cherry Lady‘ beglückte. Am Kopf der Tafel saßen Jesus Diablo und Hernandez. Rechts neben Hernandez saß ich, links neben Jesus Diablo eine flachstirnige Fettbacke, die unablässig reihum alle anderen Teilnehmer des Abendmahls mit bösen Blicken bedachte.
Kaum dass die Honneurs verklungen waren, erhob Hernandez das Glas, um seine Lebensversicherung abzuschließen: „Liebe Familie, Leute, mein lieber Jesus.“
Ich verstand kaum ein Wort, da mir das, was Hernandez in diesem Kreis sagte, spanisch vorkam. Im Nachhinein ließ er mich den (angeblichen) Wortlaut der Rede wissen:
„Der Mann“, fuhr er fort, „den wir morgen beerdigen, war ja nicht nur mein alter Herr. Er war ja auch der Vater dieses großartigen Unternehmens. Er war ein starker, cooler Typ. Um die Sache hier zu schaukeln, muss man stark und cool sein. Ich bin auch cool. Aber ich weiß nicht so wirklich, was hier abgeht. Ich kenne das Geschäft nicht. Ich kenne Euch nicht. Ich bin einfach nur der Typ, der seinem lieben Vater die letzte Ehre erweist – und weg bin ich.“
Beifälliges Murmeln.
„Natürlich habe ich mich gefragt: Mensch, Hernandez, willst Du nicht den Laden übernehmen?“ Augenblicklich nahmen die Gesichter der Trauergemeinde raubtierhafte Züge an. „Aber“, fuhr Hernandez fort „ich wusste gleich: Das ist Quatsch. Ihr habt ja den lieben Schwager meines Vaters. Ihr habt Jesus Diablo. Der hat doch bis jetzt auch alles super geregelt. Jesus ist cool. Ich finde, er macht das ganz prima und ich wünsche ihm alles Gute!“ Etwa die Hälfte der Raubtiergesichter verwandelte sich Chihuahuas, der Rest in Hyänen.
Jesus Diablo versuchte erfolgreich, Contenance zu bewahren. Hernandez erhob sein Glas und schritt zum Äußersten: „Also Leute! Auf den neuen Chef der Familie. Viva Jesus Diablo! Viva! Viva!“
Keiner der Tischgenossen wagte, das Glas stehen zu lassen, aber Jesus Diablo registrierte sehr genau, wer sich als Chihuahua zu erkennen gab, und wer zu den Hyänen zählte.
Das Essen nahm seinen Gang, und ich versuchte, mich zu entspannen. Der Rotwein half mir dabei. Da ich kein Spanisch sprach, Hernandez ins Gespräch vertieft war und der Mann rechts neben mir mich nur angewidert angesehen hatte, als ich das Wort auf Englisch an ihn richtete, konzentrierte ich mich auf das Trinken. Ich hatte schon geglaubt, die Sache sei überstanden, als Stanley, herausgeputzt wie ein Gardeäffchen, mit einem Silbertablett zum Tisch schritt, neben Hernandez innehielt und das Tablett halbrechts vor ihm abstellte. In dieses Tablett war das allgegenwärtige CCP-Wappen geprägt. Doch dort, wo die anderen Ausführungen des Wappens die Fragen zwischen den Fragenzeichen in den vier Ecken zeigten, fanden sich schmale kanalartige Vertiefungen, die liebevoll akkurat mit einem feinen weißen Pulver gefüllt waren. Gleich einem Füllfederhalter stak rechts oben in dem Tablett ein goldenes Röhrchen, dessen Zweck für den Connaisseur keiner weiteren Erläuterung bedurfte. Es war angerichtet.
Hernandez, der gerade noch launig mit Jesus Diablo geplaudert hatte, hielt inne. Er blickte auf das Tablett wie das Gnu auf den Ochsenfrosch. Seine Stirn wurde feucht und seine Mimik starr. Ich verspürte das starke Bedürfnis, ihm zu helfen. Die flachstirnige Fettbacke zog ihre Brauen bis zur Nasenwurzel hinunter. Die Chihuahuas und die Hyänen begannen, Witterung aufzunehmen. Das war nicht gut. Die Krise war da. Ich fühlte mich gefordert, griff mir das Goldröhrchen und improvisierte:
Unbemerkt füllte ich meine Lungen, tief in den Bauch atmend, mit Luft, schloss meine Lippen um das Röhrchen und – mich wie ein beherzt Einatmender aufrichtend – tat ich so, als sauge ich mit aller Kraft das Kokain in meine Lunge. Das bisschen, was ich tatsächlich aufnahm, platzierte ich unter meiner Zunge, während ich bei meinem markierten todeskampfartigen Hustenanfall darauf achtete, das Tablett mit dem Rauschgift zu Boden zu reißen. Hernandez und Stanley waren entsetzt und stürzten hinzu, mich zu retten. Der Rest der Gesellschaft war von der Blödheit des Gringos unangenehm berührt, wusste aber nicht recht, was von der Sache zu halten sei. Hernandez und Stanley schafften mich zwecks erster und zweiter Hilfe aus dem Raum und waren damit stillschweigend von der weiteren Teilnahme an der Veranstaltung entbunden.
Ich hatte mittlerweile das Rauschgift ausgespuckt und sorgte mich wegen des tauben Gefühls im Mund. Stanley sagte mir, Gin Tonic sei in meinem Fall genau die richtige Medizin. Ich vertraute ihm zu Recht. Ich schlief tief und ruhig.
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Am nächsten Mittag fand die Beerdigung statt. Ein Konvoi von elf schwarzen Verbrecherautos bewegte sich von der Bergfestung hinunter zur Nekropole des am Fuße des Berges gelegenen Ortes. Diesmal, man hatte uns mittlerweile für ebenso harmlos wie wertlos befunden, saßen Hernandez und ich ohne Aufpasser im letzten Wagen. Stanley war unser Fahrer. Dass wir im letzten Wagen saßen, bedeutete auch, dass wir in der glühenden Mittagshitze an der langen vor der Kapelle parkenden Wagenkolonne vorbei gehen mussten, bevor wir endlich in den rettenden Schatten des Gotteshauses gelangten.
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Sollten Sie jemals zu einer mexikanischen Beerdigung im Sommer eingeladen werden, bestehen Sie darauf, im ersten Wagen zu sitzen. Dieser Hinweis gilt allerdings nicht uneingeschränkt.
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Eine Ausnahme gilt zum Beispiel für den Fall, dass die Trauergemeinde ähnlich sozialisiert ist, wie die sich zu Hernandez‘ Vaters Beerdigung zusammenfindende. Denn als Hernandez, Stanley und ich im Anschluss an die Trauerfeier nach endlosen Metern völlig dehydriert schließlich wieder an unserem Wagen angelangt waren, hatte sich der Anfang der Kolonne schon längst in Bewegung gesetzt, und nach wenigen Sekunden waren die ersten sechs Fahrzeuge durch einige lustige Raketen in die Luft gejagt worden – sei es von missgünstigen, sich um die Regeln des fairen Wettbewerbs nicht scherenden, Konkurrenten – sei es von verantwortungsbewussten Joystick-Piloten im Pentagon.
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