„Bist du nicht neugierig?“
Dieselbe Nummer.
Das war er. Und auch wieder nicht.
„Ich meine, was du mir in den drei Nachrichten davor geschrieben hast?“
Zugegeben, daran hatte er bisher noch keinen Gedanken verwendet. Ja, er war neugierig. Die Blumenwiese begann sich langsam in eine riesige Parkanlage zu verwandeln, an deren Rändern das Grau der Häuser mit den grünlich spiegelnden Fenstern um die besten Plätze stritt.
„Doch. Sehr.“
Er rechnete damit eine Weile auf die nächste Meldung warten zu müssen und machte sich auf in die Küche, um nach etwas Essbarem zu suchen. Die Brotbox war so leer wie am Tag zuvor. Zum Glück war sein Cornflakesvorrat zum Bersten gefüllt. Cord schüttelte eine große Portion vitaminbeladener Zerealien in eine der bunt bemalten Schüsseln, die seine Schwester für ihn getöpfert hatte und goss sich den letzten Rest der Haltbarmilch darüber. Als er damit auf der Couch Platz nahm, zeigte sein Smartphone drei neuen Nachrichten.
„Das Bild der Steine vor dem verschwommenen Basketballplatz hat mir gefallen.“
„Rot. Grün. Rot. Grün. Stehen. Gehen. Stehen. Gehen.“
„Ich hatte auch mal einen Hund wie diesen. Ein Border Collie namens Leika. Hast du einen Hund?“
Cord las die Texte ein zweites Mal. Das sollte er geschrieben haben? Nichts an den drei Nachrichten kam ihm bekannt vor.
Nur eine Sache verunsicherte ihn. Nein, sie tat sogar mehr als das. Sie verpasste ihm einen Stich in der Brust, als eine alte Narbe wehmütig riss. Cord hatte einen Border Collie namens Leika gehabt. Und sie war seine beste Freundin gewesen, die ganze schwierige Zeit hindurch, als seine Eltern um die Vorherrschaft über das Sorgerecht gekämpft hatten und dann doch des lieben Geldes wegen zusammenblieben waren. Das war mittlerweile zehn Jahre her. Leika dagegen fristete ihr Nichtmehrdasein seit etwas mehr als fünf Jahren auf dem Hundefriedhof, ganz in der Nähe vom Haus seiner Großmutter.
„Scheiße!“
Cord warf das stumme Gerät, von dem keine Hilfe zu erwarten war, neben sich auf die Couch und ließ den Kopf in die Arme sinken. Die Tränen hatten ganz vorsichtig angeklopft und er hatte ihnen wie immer sofort die Tür vor der Nase zugeschlagen. Mit dem Geflenne konnte er nicht umgehen. Nicht mit dem der anderen und schon gar nicht mit seinem eigenen.
„Tut mir leid. Kann mir das nicht erklären.“
„Mach dir keinen Kopf. Ist mein österreichisches Handy, vermutlich war alles nur ein simples »number jumble«.“
Vielleicht.
Die Homepage seines Freundes verschwamm vor seinen Augen und die Ampeln aus seinen Träumen tauchten stattdessen vor ihm auf. Dann riss ihn die laute Melodie seines Telefons jäh ins Diesseits zurück. Es war Onkel Herbys Nummer unter dem Kopf von Dagobert Duck.
„Hi.“
„Ja, hab ich schon. Mhh. Sicher.“
„Wenn du meinst. Danke, das ist ehrlich... Danke.“
Cord stand auf und streckte sich. 12 Uhr 34. Vielleicht war es an der Zeit, eine Runde um die Häuser zu joggen, bevor er sich endlich zum Supermarkt aufmachen würde, um in den kommenden Tagen nicht in die Cornflakesfalle zu tappen. Etwas unschlüssig schlüpfte Cord in seine Laufschuhe und verabschiedete sich von der Leere, die in seinen eigenen vier Wänden Quartier bezogen hatte.
Der wenig schmeichelhafte Weck-Ton seines Handys beförderte ihn mit einem Ruck ans Tageslicht. Cord schloss die Jalousie und zog die Decke über den Kopf. 9 Uhr. 9 Uhr und das Vorgestern kehrte wie ein ungemütliches Déjà-vu in sein Bewusstsein zurück. Noch einmal. Noch einmal würde er sich im schlimmsten Fall ein Kopf an Kopf Rennen mit der attraktiven Scharlachroten liefern, das in Wahrheit nur einen fairen Ausgang finden konnte.
Bleischwer schleppte sich Cord ins Badezimmer und tat sein Bestes, um die Spuren des gestrigen Abends aus seinen Gliedern zu verbannen. Wein, Bier und der japanische Reisschnaps, den er wie schon einmal unterschätzt hatte, hatten ihr Übriges dazu beigetragen, dass Cord von Glück sprechen konnte, heute Morgen in seinem eigenen Bett aufgewacht zu sein. Die Erinnerung an das schrille Lachen der japanischen Nichte hallte in seinem Kopf wieder und ließ ihn den langen Metallgriff in der Dusche umklammern, um nicht mit dem Kopf gegen die Fliesen zu prallen. Halbfertig stieg er auf den fusseligen Badezimmerteppich hinaus und suchte nach seinem Handtuch. Ja, er hatte eindeutig die besten Voraussetzungen, um das Talentstechen heute so richtig in den Sand zu setzen.
Cord verzichtete auf seine Kanne Kaffee, nicht aber auf seine erste Zigarette und setzte sich mit einem Schädel, dessen wahre Größe wohl eher der eines Michelinmännchens entsprach, in Bewegung. Ampeln. Quietschende Reifen. Ein Altmetallhändler am Eck. Zweimal Drive-In. Einmal bog er ab. Bei einer braunen Skulptur, deren düstere Vertiefungen wohl den Inhalt seiner Worte einfangen sollten, bestellte er einen doppelten Espresso und erhielt wenig später zwei kleine Pappbecher gefüllt mit dem Inhalt seiner Bestellung.
„Danke.“
War der Typ neu oder waren dem Laden tatsächlich die großen Becher ausgegangen? Cord fuhr auf den Parkplatz und stürzte den ersten Becher in einem Zug hinunter. Den zweiten klemmte er zwischen die Sammlung an Rechnungen und den MP3-Player in der Mittelkonsole und legte den ersten Gang ein. Zehn Minuten vor zehn.
Auf dem Parkplatz seiner vermutlich nicht zukünftigen Firma nippte er an dem zweiten Becher und griff nach dem Deo, das er immer in der Tasche hinter seinem Beifahrersitz mitführte. Dann sprang er die moderne Marmorstiege ein zweites Mal in den ersten Stock empor und suchte nach dem Hinweisschild zum Büro des Chefs. Das Schild existierte nicht. Niemand, außer dem Personalchef, schien über ein Namensschild an der Tür zu verfügen und so setzte sich Cord erneut auf einen der unbequemen Sessel davor und schnappte sich ein Magazin.
„Herr Gregori?“
Cord zuckte zusammen. Auf dem feingliedrigen Gesicht der roten Nymphe machte sich ein Hauch von Belustigung breit.
„Herr Doktor Kaltenbrunner meinte, ich solle mal nachsehen, ob Sie sich eventuell im Stock geirrt haben.“
Du, war er versucht zu sagen. Doch das Du war hier genauso situationsfremd, wie die wirren Gedanken in seinem Kopf. Verlegen stieg er hinter ihr die Treppe hinauf in den zweiten Stock, wo jede einzelne Tür über ein piekfeines Namensschild verfügte, das die Insassen wie eine riesige Ansammlung von Führungskräften zum Verkauf anpries.
„Hier entlang.“
Bereits nach dem zweiten Satz ging ihm ihre neckische Art gehörig auf die Nerven. Cord warf ihr einen gehässigten Blick hinterher, der ihr genau das unmissverständlich klar machen sollte. Doch wie schon so oft, versagte das Übersetzungsprogramm und seine blauen Augen bewirkten das genaue Gegenteil. Sie antwortete mit einem freundlichen Lächeln und ließ jegliches Konkurrenzdenken für einen Moment in den Hintergrund treten.
„Ah, Herr Gregori! Sehr erfreut, Sie auch endlich hier begrüßen zu dürfen. Mein Personalchef hat mich bereits darüber informiert, dass Pünktlichkeit wohl nicht zu ihren Eigenschaften zählt.“
Das saß. Cord steckte den ersten Hinweis auf einen schlechten Start mit einem Kopfnicken und einem reuevollen Blick ein und stierte auf den eleganten Kunststoffstuhl neben dem, auf dem Scarlett Platz genommen hatte.
„Setzen Sie sich. Es gibt keinen Grund zur Panik. Im Grunde handelt es sich hierbei nur um eine Kleinigkeit, die ich allerdings gerne von Ihnen beiden gemeinsam erledigt gesehen hätte.“
Scarlett nickte und Cord arbeitete hart daran, es ihr nicht wie ein folgsamer Dackel gleichzutun. Das Wort gemeinsam hatte Doktor Kaltenbrunner betont, als würde der Fortbestand der menschlichen Rasse und seiner bewährten Vorherrschaft davon abhängen. Cord schielte auf die losen Zettel in der Hand des Firmenchefs.
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