„Wollte dich eigentlich fragen, was Mickey momentan so treibt? Ist er in der Stadt?“
Mickey war schon immer ein Rumtreiber gewesen. Zum Teil hatte er das von seiner Mutter, einer venezolanischen Ungarin, und zu einem nicht geringeren Teil von seinem Vater. Herby war Stammgast bei so ziemlich allem und jedem, der ihm die Tür offen hielt.
„So seltsam es klingt, ja. Momentan ist er das. Schätze, ihm ist wiedermal das Geld ausgegangen.“
Herby lachte. Mickey war bei seiner Mutter aufgewachsen, aber über die Sommerferien stets für ein paar Wochen bei seinem Vater gestrandet. Damals hatten Onkel Herbert und Tante Elfriede noch in dem Haus gegenüber gewohnt. Damals... Cord verdrängte das schwere Gefühl aus der Magengrube und setzte einen erwartungsvollen Gesichtsausdruck auf.
„In der alten Wohnung?“
„Der alten seiner Mutter. Erster Bezirk. Irgendwann dürfte sie endlich den Trottel gefunden haben, den sie ihr ganzes Leben lang gesucht hat!“
„Hast du eine Adresse oder Telefonnummer? Ich bräuchte da etwas von ihm...“
„Wow und dazu brauchst du mich? Seid ihr heute nicht alle bestens vernetzt in eurer Social Media?“
„Nicht Mickey.“
Onkel Herby hob die Augenbrauen und durchsuchte sein Handy.
„Ich schick‘s dir gleich durch.“
„Danke.“
„Cord hilf mir! Meine Familie ist hier und sie treiben mich in den Wahnsinn!!!“
Cord schmunzelte, als er den Schlüssel auf das Vorzimmertischchen fallen ließ und die Schuhe abstreifte.
‚Damit musst du selbst fertig werden, Milk. Ich hatte heute schon meine Dosis Familie.‘
Es war spät geworden. Um kurz nach acht war er endlich von dem Haus seiner Eltern aufgebrochen und hatte sich mit seinem unterkühlten Auto auf den Heimweg gemacht. Irgendwie waren sie beide nicht recht warm geworden. Cord hatte so stark von innen gefroren, dass ihm das Lenken Probleme bereitet hatte und er einmal beinahe beim Schalten ausgerutscht wäre. An eine Zigarette war nicht einmal zu denken gewesen.
Die Wohnung dagegen war warm und es roch nach den angebratenen Zwiebeln, die er für sein asketisches Mittagsmahl gebraucht hatte. Eierspeise, oder was war es noch schnell gewesen? Die Ereignisse der letzten Tage hatten sich zu einem einzigen Knäuel unterschiedlichster Informationen verflochten. Milk und ihr Fuß bewegten sich zähflüssig im Zentrum auf und ab.
Wie ferngesteuert warf Cord seinen Laptop an und öffnete ihre Homepage. Er betrachtete die wehmütigen Schwarzweiß-Aufnahmen. Milch und Pech fügte sich auf ihnen in stets andersartiger Harmonie zusammen. Cord zwickte die Augen zusammen und die groben Konturen verschwammen, übrig blieben Licht und Formen.
Fantastisch. Viel zu schön, um wahr zu sein.
Scheiße, war er übermüdet. Cord rieb sich die Augen und klappte den Bildschirm zu. Es war kurz nach neun und er konnte nicht sagen, ob er eben erst aufgestanden war oder es bald Zeit sein würde, ins Bett zu kriechen. Cord stand auf und schleppte sich ins Badezimmer.
Morgen nach der Arbeit würde er zuallererst Mickey kontaktieren müssen. Cords Kopf spielte mit ihm und er sah keine Chance, es allein unter Kontrolle zu bringen.
Nach einer wahnwitzig kurzen Waschaktion ließ er sich auf die Couch gleiten und schloss für einen Moment die Augen.
„Brauchst du noch etwas, Miriam?“
Nein, verdammt! Wann würde die zermürbende Fürsorglichkeit ihrer Schwester endlich den Raum verlassen und das von ihr zurücklassen, was Milk im Moment am meisten brauchte. Ihre Lebensfreude und Energie.
„Danke, Alice. Ich habe alles. Setz dich endlich!“
Milk konnte nicht glauben, dass ihre Mutter ebenfalls die lange Reise bis hierher auf sich genommen hatte. Ihre Augenringe sprachen für sich. Fast fühlte Milk sich dazu bemüßigt, sie in den Arm zu nehmen und ihr zu vergewissern, dass alles nur noch besser werden konnte. Mutter war erledigt. Seit der Darmkrankheit letztes Jahr war sie gealtert. Ihre liebevoll zurückhaltende Art einer zufriedenen Mittfünfzigerin war in Mitleidenschaft gezogen worden. Milk hatte plötzlich Angst um sie.
„Mom, du kannst dir jederzeit einen Tee oder Kaffee besorgen. Unten in der Cafeteria ist beides wirklich empfehlenswert.“
Sie schüttelte den Kopf.
„Alice, willst du?“
„Nein. Und nenn sie nicht immer Mom! Das hält man ja im Kopf nicht aus.“ „Ok, entschuldige, das war nicht sehr...“
Hilflos hielt sie inne.
Milk nahm die Hand ihrer Mutter und schickte ihr ein freches Lächeln. Kurz flackerte etwas in der versteinerten Miene der kleinen Frau auf und Milk drückte ihre Hand.
„Eva hat uns den Schlüssel zu deiner Wohnung gegeben. Es ist doch ok...? Oder wäre es dir lieber, wenn wir uns ein Hotel nehmen?“
„Nein! Natürlich bleibt ihr in meiner Wohnung. Hotels hier sind doch schweineteuer. Aber nicht böse sein, wenn sie euch nicht entgegenblitzt.“
Alice lächelte milde. Milk war sich sicher, dass die beiden sofort nach ihrer Ankunft den Besen in die Hand nehmen und alles kräftig sauber machen würden. Oder aber sie ließen sich einfach eine Pizza vom Lokal an der Ecke raufbringen, nur um dann in ihr ungemachtes Bett zu fallen. In Extremsituationen waren sie beide ziemlich unberechenbar.
Vor einer Weile hatte ihr Telefon eine Nachricht gemeldet und Milk nutzte den ruhigen Moment, in dem sich ihre Schwester mit ihrer Mutter unterhielt, um sie zu lesen. Die Heimlichkeit war unnötig, dennoch spürte sie einen Hauch von Intimität, als sie das Telefon so drehte, dass niemand anderes auf das Display Einsicht haben würde.
„Musst selbst damit fertig werden, hatte heute schon meine Dosis Familie.“
Ein zarter Schauer strich ihr den Rücken hinab. Das war nicht gut. Hier war jemand eindeutig zu weit gegangen. Sie kopierte die Nachricht und retournierte sie kommentarlos an den Absender.
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