„Wir sind erst seit Kurzem befreundet. Was ist ihr passiert? Gibt es etwas, das ich von hier aus für sie tun kann?“
Die Sätze klangen lächerlich. Wie die übereilten Fragen eines dummen Schulbuben und dennoch, Cord hatte nicht die Geduld, sich mit einer sensibleren Fragestellung zu beschäftigen.
„Ihr rechter Fuß. Und ich weiß nicht einmal, wo dieses ‚hier‘ ist, von dem du da sprichst. Lebst du nicht in New York?“
Ein Fuß. Fehlte. Cord war kreidebleich geworden. Ganz beiläufig hatte er zur Kenntnis genommen, dass ihre Freundin Eva in deutscher Sprache geschrieben hatte und sie darum hatte annehmen müssen, dass es sich bei ihm ebenfalls um einen deutschsprachigen Auswanderer handeln musste. Das amerikanische Handy. Deutsch. Ein Fuß?
„Wien. Hast du schon mit ihr gesprochen?“
Cord nagte an den Knöcheln seiner Finger, während er auf ihre Antwort wartete. Das hatte er seit seiner Kindheit nicht mehr getan. Die Zigaretten lagen weit weg am Vorzimmertisch.
„Nein, sie ist in einer Art künstlichem Tiefschlaf oder so. Keine Ahnung, Verrückt, wie es hier zugeht!“
Und er wollte es sich nicht vorstellen. Von einem Augenblick auf den nächsten hatte sich die Subway-Station im hippen New York direkt in sein Wohnzimmer verschoben. Cord dachte an ihre zarten, kreidebleichen Füße, wie sie auf dem Foto der Homepage lässig über die Armlehne gehangen hatten. Auch eine Elfe bestand nur aus Fleisch und Blut.
Cord ließ den Kopf in die Hände sinken und kämpfte mit dem unerklärlichen Schwall von Gefühlen, der so plötzlich über ihn hereingefallen war. Nichts von all dem, was sie beide zusammengeführt hatte, hatte Sinn ergeben und dennoch. Dennoch fühlte er sich ihr verpflichtet. Nein mehr, er fühlte sich ihr verbunden. Auf eine der schrägsten Arten und Weisen, die er sich ausmalen konnte.
Den ganzen Nachmittag über starrte er abwechselnd auf den Bildschirm seines Laptops, seines Fernsehers oder auf das alles verschlingende Türkis seiner Wand. Er aß nichts, trank nur wenig und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Um achtzehn Uhr zwanzig verschwand er ins Badezimmer und erschauderte bei dem Blick auf sein schonungslos ehrliches Echtzeitportrait. Er wusch sich das Gesicht mit lauwarmem Wasser, wie es seine Ex immer geraten hatte, und schlüpfte aus dem zerknautschten T-Shirt und der aschgrauen Trainingshose, die bereits seit Tagen tunlichst der Waschmaschine entgangen waren.
Zehn Minuten später ertönte das surrende Geräusch seiner Glocke und Cord drückte auf den Türöffner. Hatte Diana ihren Zweitschlüssel gestern bei ihm abgegeben? Der Gedanke war so unnötig wie ein Schwarm Gelsen plötzlich aufgeblitzt und ebenso rasch wieder verschwunden, als Cord das Stück Metall auf seinem Küchentisch entdeckte. Sie hatte ihn hier gelassen. Es war also wirklich aus zwischen ihnen.
„Hey Bro!“
Leo hatte die letzte Silbe in die Länge gezogen und beide Hände in Gangstermanier zum Takt der unsichtbaren Coolness bewegt.
„Was ist hier passiert? Hast du dir gleich zwei auf einmal angeraucht oder einfach nur vergessen zwei Tage lang das Fenster zu öffnen.“
„Beides irgendwie.“
Leo sah ihm scharf ins Gesicht. Das war seine Macke und er beherrschte sie zur Perfektion. Ala Star Wars versuchte er die Macht zu nutzen und ließ Cord zappeln, wie einen Fisch am Haken.
„Lass das, Spinner!“
„Diana, mh?“
„Schon lang nicht mehr...“
Am liebsten hätte er es ihm einfach gebeichtet. Alles. Von den Bildern. Den Gefühlen, die sie in ihm auslösten und der harschen Absage, die sie ihm noch kurz vor ihrem Unfall erteilt hatte. Unfall? Unfälle passierten ohne Absicht. Nein, man hatte ihr den Fuß genommen, wie eine unschuldige Geisel, ohne Aussicht auf ein positives Ende.
„Egal. Wir päppeln dich schon wieder auf!“
Das wollte er hoffen. Denn er fühlte sich genau so. Wie der gelbe Wasserball, den er als Kind besessen hatte. Schlaff und gesegnet mit einem winzigen, unauffindbaren Loch, das ihm seine wahre Größe geraubt hatte.
Schlafen tat gut. Das Außen war weich und rund. Die Farben gedämpft. Nur eines meldete sich langsam aber stetig bei ihr. Diese Gier nach etwas, ohne dem es nicht ging. Milk schluckte oder versuchte es zumindest. Wie Steine in einem ausgetrockneten Flussufer schrammte ihr Zunge gegen den Gaumen.
„Der Tropf ist falsch eingestellt. Sag ihr, dass sie das nächste Mal besser aufpassen soll.“
Die Stimme klang harsch und wenig sympathisch. Milk hielt die Augen geschlossen, bis sie sicher war, dass der dazugehörige Kehlkopf aus dem Zimmer verschwunden war.
Langsam ließ das Gefühl des Durstes nach. Als sie vorsichtig ihre Augen öffnete, sah sie sich in dem abgedunkelten Raum um und suchte nach Lebenszeichen. Eine Maschine gab in konstantem Rhythmus Töne von sich. Eine andere zeichnete etwas auf und alles war irgendwie mit ihr verbunden. Ein wenig fühlte sie sich wie die seitenverkehrte Version einer Gynoiden.
Jemand öffnete die Tür und lächelte ihr zu. Es war nicht dieselbe Person von vorhin. Diese hier lächelte und sie roch nach Hustenbonbons.
„Hallo. Wie geht es Ihnen?“
Milk starrte sie an. Die Worte waren so alltäglich gewählt, dass sie sie nicht recht mit ihrer derzeitigen Situation in Einklang bringen konnte.
„Gut?“
Sie zwang sich das Wort zu wiederholen, als wäre es auf taube Ohren gestoßen.
„Der Oberarzt kommt gleich zu Ihnen. Heute ist viel zu tun.“
Miriam nickte.
„Gibt es etwas, das ich für Sie tun kann?“
Miriam schüttelte den Kopf und schloss die Augen für eine Sekunde.
Feinfühlig. Feinfühlig hatte man ihr klargemacht, dass ab nun alles anders werden würde. Milk hatte sich nicht gerührt. Hatte eine ernste Miene aufgesetzt, als in ihrem Inneren eine Welt explodiert war. Sie hatte keine Ahnung, wie sie sich fühlte. Wie sie sich fühlen sollte.
Irgendwann hatte sie Eva in die Arme genommen und sie war ihr unendlich dankbar dafür gewesen. Eine einzige Träne rollte an ihrer Wange hinab und sie dachte an das Bild des weiblichen Clowns im Zirkus. Damals hatte sie einen Moment eingefangen, den sie nicht hätte einfangen dürfen. Heute war ihr Moment gekommen. Sie drückte sich an Evas kuscheligen Pulli und spürte die salzige Träne auf ihrer Lippe.
„Das wird schon wieder! Heute gibt es doch schon so viele Möglichkeiten!“
Sie war ihr dankbar für diese Worte und dennoch würde Eva es nicht verstehen. Es nie verstehen, dass es ihr Fuß war, um den es hier ging. Der mit dem dunklen Fleck auf der Ferse. Der Fleck, der ausgesehen hatte wie der Stiefel Italiens.
Nach und nach trudelten die wahren Ausmaße des Unglücks an ihrem Bett ein. Milk ertappte sich dabei, wie der eigene Schmerz in Anbetracht der stetig steigenden Opferzahlen abzunehmen begann. Wie jeder weitere Schwerverletzte ihren eigenen Lebensmut zu stärken schien. Es fühlte sich pervers an und es widerte sie an.
„Milk?“
„Ja?“
„Soll ich ihm nun schreiben oder willst du es selbst tun?“
„Wem?“
Eva sah sie mitfühlend von der Seite an. Ihre Stimme war so eintönig gewesen. Die Geräusche des Umfelds so ungleich interessanter.
„Na Scott.“
„Scott?“
„Ja, du hättest vor zwei Stunden in Schottland ankommen sollen?“
Schottland... Ein Bild eines drahtigen Fotografen in schwarzer Lederjacke tauchte vor ihr auf. Die Gefühle blieben in Deckung.
„Milk? Ruh dich noch ein wenig aus. Ich erledige das.“
Ausruhen. Was dachte sie, wo sie hinwollte?
Scott Cochrane. Der Name hallte wie ein schwaches Echo aus der Vergangenheit zu ihr durch. Nein. Sie würde ihm nicht schreiben. Wollte nichts erklären müssen. Einfach nur atmen und die Kratzer und Wunden am ganzen Körper spüren. Milk lehnte den Kopf in dem weichen Polster zurück und wünschte sich nachhause. Zu ihrer Schwester, zu ihrem riesigen Wasserkopfbeladenen Plüschelefanten und dem selbstgemalten Dschungel in ihrem Kinderzimmer.
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