1 ...8 9 10 12 13 14 ...17 Die schrille Glocke an der Eingangstür erklang und ließ die heimgekehrten Geister erneut die Flucht ergreifen. Cord rappelte sich hoch und schleppte sich übertrieben vorsichtig zum Türspion.
„Hallo Diana.“
„Hi. Bin gleich wieder weg.“
„Nimm dir Zeit.“
Diana marschierte schnurstracks in sein Schlafzimmer und öffnete seine Schranktüren, als wären es die ihren, die nur durch einen dummen Zufall an einen anderen Ort verbannt worden waren.
„Sorry, dass es so kommen musste. Aber, mal ehrlich, das alles hätte doch zu nichts mehr geführt.“
Sie sprach mit dem Schrank und Cord fühlte sich nicht dazu bemüßigt, darüber nachzudenken, wohin die Dinge führen konnten. Mehr zu sich selbst nickte er und ließ sich auf das Bett daneben sinken. Sein Mund war staubtrocken.
„Möchtest du etwas trinken? Ich hol mir nur schnell...“
„Nein, danke.“ „Klar, mach nur.“
Cord war erleichtert, ihr den Rücken zuzukehren und konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal einen derartigen Heißhunger auf ein simples Glas Wasser verspürt hatte. Über die Abwasch gebeugt füllte er das Glas erneut und starrte in den Mund des aufgemalten Breitmaulfrosches darauf. Als er das Glas wieder absetzte, konnte er Diana im Rücken spüren. Sie war beinahe lautlos in den Türrahmen getreten und blickte zu ihm hinüber. Cord drehte sich zu ihr um.
„Schon das von New York gehört?“
„Nein.“
„Ein Haufen Terroristen hat vor ´ner knappen Stunde eine U-Bahn in die Luft gesprengt. Über hundert Tote. Schon krank, wie es momentan so zugeht, nicht?!“
Cord schluckte.
„..rank.“
Das K war irgendwo zwischen seinem Kehlkopf und dem Gaumen falsch abgebogen. Er bemühte sich nicht, das Gesagte zu wiederholen. Es wäre zwecklos gewesen. Diana hatte ihm bereits den Rücken gekehrt und bückte sich, um in ihre Stiefel zu steigen.
„Na gut, dann werd´ ich mal wieder... Ciao Cord!“
Cord riss sich aus seiner Starre und begleitete sie zur Tür.
U-Bahn. New York. Tote. Wann war das genau gewesen?
Er lächelte ihr zu, als der Türspalt zwischen ihnen immer kleiner wurde.
Internet.
Cord machte auf dem Absatz kehrt und hing sich vor seinen Computer.
New York.
Die Bilder waren schneller auf dem Bildschirm erschienen, als seine Gedanken es hatten zulassen wollen. Rauch. Einsatzkräfte. Neongelbe Jacken und verzweifelte Gesichter. New York war einmal mehr das Opfer und die Medien zeichneten der Stadt bereits ihr Gedenkportrait.
Cord blickte in die Gesichter. Pietätlos glotzte er sie an, als hätte er jedes Recht dazu, ihren Schmerz zu begaffen. Staubige Gesichter. Blutige Gesichter. Blonde Haare. Schwarze...
Cord rannte ins Badezimmer und fand sich gerade noch rechtzeitig über der Kloschüssel ein, als ein Schwall klaren Wassers den entgegengesetzten Weg ins Freie suchte. Heute war eindeutig nicht sein Tag. Der Gedanke von Selbstmitleid verwandelte sich blitzschnell in peinigend schlechtes Gewissen. Was sollten sie Angehörigen von über hundert Toten über den heutigen Tag sagen. Cord war ein elendiges Weichei und die Erkenntnis darüber fühlte sich um nichts besser an.
Natürlich würde er nicht umhinkommen, ihr zu schreiben. Sich zu vergewissern, dass es ihr gut ging. Allein der Gedanke, sie könne in genau dieser Bahn gesessen haben, war absurd. Grenzenlos absurd.
Dennoch. New York war ein winziger Punkt in dem Atlas, der seit Menschengedenken auf dem untersten Fach seines Bücherregals verweilte.
„Hi Milk! Schlimme Sache. Wann wird es endlich ein Ende dieses Wahnsinns geben? Mein Beileid an deine Stadtkollegen. Ich hoffe, dir geht es gut. Cord“
Er hatte es beiläufig klingen lassen wollen und hatte sich ein wenig über die theatralische Formulierung gewundert, die er gewählt hatte. Dennoch war er der Meinung, dass er es ganz gut hingebogen hatte. Cord ließ das Handy auf den Wohnzimmertisch gleiten und drehte den Fernseher auf. Wie zu erwarten, hatten die meisten Sender nur ein Thema zu bieten und Cord drückte sie weg. Die banale TV-Serie eines amerikanischen Vorortamerika brachte genau jene Ablenkung, die er brauchte. Nach zwanzig Minuten döste er erschöpft ein.
„Nicht ansprechbar.“
Farben tanzten um den grellen Mond in ihrem Zentrum. Milk versuchte zu lächeln, doch niemand lächelte zurück.
Irgendwann war diese Gestalt neben ihr aufgetaucht und hatte diese beiden Worte gesagt. Ihr Mienenspiel war ernst geblieben und Milk hatte sie lautlos nach ihrem Namen gefragt.
‚Nicht ansprechbar.‘ So seltsam es klang.
Vergessen lag sie zwischen den farbigen Lichtern eingekeilt und wartete. Ihr Körper zitterte, während heißkalte Wellen ihre Arme und Brust hinabsausten. Von der linkischen Großmutter wurde sie in eine kratzige Decke gewickelt, doch Miriam lächelte zum Dank.
Etwas war geschehen. Sie konnte es spüren. Um sie herum herrschte Dynamik, wie jene, die sie so gut aus ihren Bildern kannte. Die einzelnen Ausschnitte der Bilder standen still und sie stand still. Das war nicht richtig so.
Unkontrolliert schlug ihr linkes Bein in stets wechselndem Rhythmus gegen die Wand. Milk ließ es zu. Das Schlagen war besser, als das Jucken im rechten Bein. Direkt unterhalb des Knies hatte sie sich erneut an dem stupiden Backrohr verbrannt. Doch sie konnte nichts sehen. Die kratzige Decke war überall. Und die heißkalten Arme gehorchten ihr nicht.
Die außerirdische Macht, die von ihr Besitz ergriffen hatte, hielt sie eisern im Bann. Sehen, aber nicht begreifen. Spüren, aber nicht greifen. Milk ließ sich fallen und schwebte durch die Skizzen in ihrem Kopf. Es tat so gut, die Nuancen zu fühlen, die umgekehrte Gestalt der Dinge zu erleben.
Es rumpelte kurz und das Außen geriet in Bewegung. Rollen. Schieben. Holpern. Als hätte man ihr Portrait auf die Schultern eines Riesen gepackt. Die Lampen flimmerten, als er mit dem Kopf dagegen stieß.
Miriam schloss die Augen und erspürte die breiten Schultern unter sich. Morgen würde sie es verstehen. Am Morgen wachte man auf.
Cord sah auf die Uhr. Freitag. 4 Uhr 36. Wie lange hatte er geschlafen?
Der Fernseher lief noch und zeigte die Wiederholung einer weiteren amerikanischen Serie. Cord setzte sich auf und war mit einem Schlag munter. Wikodikabesa. In Windrichtung der kommunalen Tierkadaverbeseitigungsanlage. Er befand sich immer noch mitten in New York.
Lily und Marshall stritten. Nein, sie argumentierten. Dennoch, immer wieder blitzte das Schild des MTA-Abgangs auf. 23th St., 28th St.? Orange oder Dottergelb. Ein Blick ins Internet hätte genügt, um das Rätsel zu lösen. Cord verweigerte sich der Wahrheit. Stattdessen warf er einen Blick auf das Display seines Telefons.
Keine Nachricht. Sie hatte zu arbeiten, beruhigte er sich.
Cord hatte erneut von ihr geträumt. Ihren Werken, ihren Perspektiven, ihrem Sein. Es war märchenhaft gewesen. Sagenhaft und surreal. Wie man es seinen Träumen nur hätte wünschen können.
Diesmal waren es größtenteils Landschaftsaufnahmen gewesen, die sich ihm offenbart hatten. Schwarz-weiß, sepia und einige in einem tannengleichen Grünstich. Der Tanz der Insekten vor der Kulisse einer sommerlichen Lichtung. Ameisen im Kampf mit dem Harz auf einem frisch gefällten Baum. Tau. In allen erdenklichen Formen.
Sie war eine Künstlerin. Und obwohl er nicht wusste, wie sie es machte, verzauberte sie ihn. Ihre Bilder waren ihm im Gedächtnis geblieben und hatten sich vervielfältigt. Ihn angeregt weiter zu träumen. Seine eigenen Ideen zu realisieren. Anders konnte Cord es sich nicht erklären.
Freitag. Wenn er für diesen Tag irgendetwas geplant gehabt hatte, hatte er es nicht in seinem Terminkalender eingetragen. Zehn vor fünf. Cord drehte den Fernseher auf lautlos und starrte in die Dunkelheit vor seinem Fenster. In einer Stunde würde ein leichter Schimmer den Himmel über der Stadt beherrschen. New York dagegen würde noch weitere sechs Stunden auf seinen Sonnenaufgang warten müssen.
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