Rebecca überlegte kurz. Es machte keinen Sinn die Arbeit unnötig aufzuschieben. Außerdem war es weder für sie noch für ihre Patienten ein angenehmer Anblick. „Samstagvormittag wäre mir recht.“
Der Mann überprüfte den Termin in einem Notizbuch. Rebecca musste lächeln. Wer benutzte heutzutage noch altertümliche Notizbücher?
Er nickte zustimmend. „Ich kann das auf elf Uhr legen.“
„Das passt“, entgegnete sie.
„Bis morgen.“ Er hob die Hand kurz zum Gruß und ging.
Rebecca wollte sich erneut auf die Akte konzentrieren und wurde gleich wieder unterbrochen.
Natascha betrat das Sprechzimmer, sparte sich das Anklopfen. Sie starrte auf den großen Fleck am Boden. „Wie kann es sein, dass ich hier arbeite, aber nicht weiß was vorgefallen ist?“
„Wie kann es sein, dass du auf Informationen bestehst, die ich dir im Moment nicht geben kann?“ stellte Rebecca eine Gegenfrage. „Nimm dir doch ein Beispiel an Sarah. Sie geht brav ihrer Arbeit nach ohne Fragen zu stellen.“
„Oh, Sarah möchte auch wissen was hier los war. Sie traut sich bloß nicht zu fragen. Das Problem habe ich nicht.“ Natascha setzte sich in einen Sessel vor dem Schreibtisch. Eigentlich war der Sessel den Patienten vorbehalten.
Rebecca legte die Akte zurück auf den Tisch und schaute ihre Angestellte missbilligend an. Natürlich war das nicht nur ihr Arbeitsplatz, sondern auch der von Natascha und Sarah. Von daher hatten sie selbstverständlich das Recht zu erfahren was vorgefallen war. „Kurz nachdem du gegangen bist kam ein fremder Mann in die Praxis. Er hat mich mit einer Waffe bedroht.“
Nataschas Miene zeigte deutlich ihr schockiertes Erstaunen. „Was? Warum? Hat er irgendwas gesagt? War es ein Überfall? Wurde etwas gestohlen? Wer überfällt eine Praxis? Das ist unglaublich!“
„Seine Tochter kam vor drei Jahren bei einem Verkehrsunfall mit Fahrerflucht ums Leben. Der Unfallfahrer wurde vor ein paar Tagen aus der Haft entlassen. Darüber war der Mann sehr wütend. Ich weiß nicht, was genau er sich von der Aktion gestern erhofft hat. Das weiß ich wirklich nicht“, erzählte Rebecca. Hoffentlich hatte sich das Thema damit erstmal erledigt.
Natascha sah sie mit weit aufgerissenen Augen an. „Er hat dich geschlagen!“
Rebecca verzog das Gesicht. Sie bereute es sofort, denn die Wange schmerzte umgehend. „Ich hatte viel mehr Glück als einer der Gebäudereiniger. Er wurde erschossen.“
Entsetzen löste den Schrecken auf Nataschas Gesicht ab. „Wer wurde erschossen? Wer?“ fragte sie mit schriller Stimme.
„Seinen Namen kenne ich nicht. Es war der Ältere mit dem lichten Haar“, sagte Rebecca.
Natascha schluchzte auf. „Manny? Manny ist tot? Nein, das kann nicht sein! Das darf nicht sein!“ Ihr Schluchzen wurde noch lauter. Sogar als sie regelrecht aus dem Sprechzimmer stürmte. Rebecca sah ihr überrascht nach. Was war denn in Natascha gefahren? Wie gut kannte sie das Reinigungspersonal? So sensibel kannte sie Natascha überhaupt nicht. Die Gute hatte doch normalerweise immer einen kessen Spruch auf den Lippen. Rebecca kramte ein Telefonbuch aus einer Schublade hervor und suchte nach Firmen, die sie mit dem Austausch des Bodenbelags beauftragen konnte.
Abgetragene Gesundheitsschuhe schlurften schwerfällig über einen braunen, gefliesten Boden. Ein alter Mann, mit in allen Richtungen wild abstehenden, weißen Haaren, dicken, buschigen Augenbrauen und einen ebenso buschigen Schurbart, bahnte sich langsam einen Weg durch den von zahlreichen antiken Möbeln gesäumten schmalen Gang. Er kannte jedes einzelne Stück an dem er vorbei schlurfte. Die Herkunft, die Geschichte eines jeden dieser Unikate war ihm bekannt. Sein Wissen bezog sich nicht ausschließlich auf das Mobiliar, es erstreckte sich ebenso auf die anderen Einrichtungsgegenstände. Das war sein Antiquitätenladen, den er seit vielen Jahrzehnten führte. Er liebte diese geschichtsträchtigen, aus massivem Holz erbauten Kunstwerke. Die Arbeit fiel ihm mit jedem Tag der verging schwerer. Seine Kraft, seine Energie, hatten ihn längst verlassen. Das war für einen Mann seines Alters auch nicht weiter erstaunlich. Immerhin war er nun schon über achtzig Jahre alt. Mühsam erkämpfte er sich jeden einzelnen Schritt. Unfassbar, wie aus den kleinsten, alltäglichen Dingen mit den Jahren richtige Herausforderungen wurden. Albert Stein hatte genug von seiner Aufgabe. Über all die Jahre hatte er sich niemals beklagt. Nicht ein einziges Mal. Vor unendlich langer Zeit, als er noch jung und voller Energie gewesen war, hatte die ihm anvertraute Aufgabe ihn sogar mit Stolz erfüllt. Doch das war lange her und nun war er bereit endlich abberufen zu werden. Er erreichte die Kammer hinter dem großen Verkaufsraum, der durch die vielen verkäuflichen Gegenstände hoffnungslos überladen wirkte. Seine von Altersflecken gezeichnete Hand öffnete eine dunkle Holztruhe. Darin befand sich ein mit vielen Schnitzereien verziertes Kästchen. Albert machte sich nicht die Mühe das Kästchen aus der Truhe zu heben. Selbstverständlich hatte er das früher immer getan. Er hatte dieses wertvolle Kästchen aus der Truhe gehoben, diesen besonderen Augenblick, das ganze Ritual regelrecht zelebriert. Doch damit war es seit vielen Jahren vorbei. Er öffnete einfach den Deckel des Kästchens und hob den Inhalt heraus. Bevor er das Herausgenommene näher betrachtete, schloss er erst das Kästchen und dann die Truhe wieder. Nun sah er auf das Kuvert in seiner Hand. Er brauchte es nicht zu öffnen, wusste genau was sich darin befand. Es war immer dasselbe. Diese Prozedur hatte er schon unzählige Male hinter sich gebracht. Der Schlüssel, der sich im Kuvert befand und das dazu gehörige Dokument waren für ihn unwichtige Utensilien. Für ihn zählte nur eines: der Name auf dem Kuvert. Und genau den las er nun: Dr. Rebecca Brandt.
Kaum hatte Rebecca das Telefongespräch mit einer Schreinerei beendet, führte Natascha mit ihren dick verquollenen Augen Eric Richter in ihr Sprechzimmer. Das war eine ungewöhnliche Vorgehensweise. Normalerweise teilte Natascha ihr die Ankunft eines Patienten mit, damit Rebecca den Patienten persönlich in ihr Sprechzimmer bitten konnte. Allerdings war Eric Richter auch nicht ihr Patient, sondern seine Frau Sophia. Und dieser Tag war weder für ihre aufgelöste Sprechstundenhilfe noch für sie selbst normal. Rebecca wusste nicht was Eric Richter in ihrem Sprechzimmer verloren hatte.
„Sophia ist nun bereits einige Wochen bei Ihnen in Therapie, nicht wahr?“ begann er ohne jegliche allgemein übliche, höfliche Einleitung.
Rebecca beobachtete ihn aufmerksam. Nur kurz blieb sein Blick auf dem großen Fleck im Teppich hängen, bevor er sich ihr zuwandte. Er nahm nicht in dem Sessel Platz, wie sie ihm wortlos mit Handzeichen anbot. Stattdessen blieb er stehen.
„Ja, das ist sie“, beantwortete sie nun seine Frage.
Eric Richter war zweifelsohne ein attraktiver, charismatischer Mann. Er trug stets teure Anzüge. Rebecca tippte auf Hugo Boss. Nicht weil sie sich damit auskannte, das war eher Julias Fachgebiet, sondern weil allein der Name schon perfekt zu seiner Ausstrahlung passte. Seine kurzen, dunklen Haare waren perfekt gestylt, wiesen nicht mal einen Hauch von Grau auf, obwohl das für einen Mann seines Alters normal wäre. Ein Mann aus reichem Hause, dessen symmetrischen Gesichtszüge ihm wahrscheinlich viele Vorteile verschafften. Mit seiner Figur und seinem Aussehen könnte er ein überaus vorzeigbares Modell für einen Anzugdesigner sein. Aber das wäre eine unwürdige Beschäftigung und kam für Eric Richter selbstverständlich nicht in Frage. Er hatte monatelang fleißig Wahlkampf betrieben und am Montag erreichte er das Ziel seiner Bemühungen: seine Amtseinführung als Oberbürgermeister. Er musste beliebt bei der Bevölkerung sein, sonst wäre er wohl kaum gewählt worden. Doch das galt keineswegs für sie. Sie kannte den Mann hinter der einnehmenden Fassade. Sophia hatte ihr tiefe Einblicke gewährt.
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