1 ...7 8 9 11 12 13 ...17 Rebecca traute ihren Ohren nicht. Wer, um Himmelswillen, vertraute den Kurkovs zwei Kinder an? Wann war das passiert? Es fiel ihr außerordentlich schwer, sich den Waffenhändler als fürsorglichen Vater vorzustellen. Allerdings musste sie zugeben, dass bei Robert selten etwas in ein allgemein übliches Bild passte. Schlafstörungen hatten ihn vor Monaten zu ihr geführt. Sein Gewissen hatte ihm den Schlaf geraubt. Sie wusste nicht, wie viele Menschenleben er auf dem Gewissen hatte. Aber es schien ihn schwer zu belasten. Sie hatten sich auf eine notwendige Veränderung in seinem Leben geeinigt, damit er wieder ruhig schlafen konnte. Ihrer Meinung nach wäre die Aufgabe des Waffenhandels die richtige Wahl zur Veränderung gewesen. Sie war davon ausgegangen, dass Robert zu demselben Entschluss kam. Doch offenbar war das nicht der Fall. Er hatte sich zu etwas völlig anderem entschlossen.
„Was machen Ihre Schlafstörungen?“
Robert atmete tief durch. „Verschwunden. Seit die beiden bei uns sind, schlafe ich tief und fest wie ein Baby. Es sei denn, eines der Kinder weint. Dann kann man nicht schlafen. Das zerreißt einem das Herz.“
Rebecca lehnte sich etwas vor und betrachtete Roberts Gesicht genau. „Wissen Sie noch, wozu ich Ihnen geraten habe?“
Seine dunkelbraunen Augen erwiderten ihren Blick warmherzig. „Ich weiß. Ich weiß, Doc. Aber wir wissen doch beide, wenn ich das Geschäft aufgebe, wird es ein anderer übernehmen. Das ist wie mit dieser mehrköpfigen Schlange. Wie heißt sie noch gleich?“
„Hydra“, antwortete Rebecca im Reflex.
„Richtig, Hydra. Egal wie viele Köpfe Sie auch abschlagen, es wachsen immer welche nach. So ist das auch in meinem Geschäft. Mir ist es lieber ich bin der Kopf, der sagt wo es langgeht. Man weiß schließlich nicht, was da sonst nachwachsen würde“, entgegnete Robert.
„Sie könnten das eindämmen und Ihren Nachfolger gleich der Polizei melden“, schlug Rebecca ihm vor.
Robert lachte auf. „Sie sind lustig, Doc.“ Dann wurde er wieder ernst. „Sie verstehen das nicht. Aber die beiden Kleinen sind sicher bei Lilia und mir. Es wird ihnen nichts geschehen. Niemand wird ihnen je wieder ein Leid zufügen.“
„Glauben Sie wirklich, es ist gut für die beiden, wenn der Pflegevater sämtliche Widrigkeiten aus dem Weg räumen lässt?“ formulierte Rebecca die Frage vage und leise.
Robert antwortete in demselben leisen Ton. „Lilia und mir sind keine eigenen Kinder vergönnt. Diese beiden Racker mögen nicht aus meinem Fleisch und Blut sein, aber ich liebe sie als wären sie meine eigenen. Ich werde alles, und damit meine ich wirklich alles, für sie tun. Verstehen Sie das, Doc? Leider haben wir uns noch nicht gekannt, als Sie verlobt waren. Vieles wäre anders gelaufen. Ich hätte Ihren Verlobten zum Altar geschleift, ihn angekettet, wenn nötig, um ihn von dieser Reise abzuhalten. Aber verraten Sie mir doch, was würden Sie opfern, um ihn zu retten? Würden Sie gar ein Leben im Tausch gegen seines opfern?“
Rebecca dachte darüber nach. Ja, sie wäre vermutlich durchaus fähig dazu ein Leben für Bens einzutauschen. Aber das war belanglos. Erstens war so etwas nicht möglich und zweitens wäre Ben mit einem solchen Tausch niemals einverstanden gewesen.
Ihr Gesichtsausdruck ließ Robert wissend lächeln. „Sehen Sie, Doc? Tief in unseren Herzen sind wir uns sehr ähnlich. Deswegen mag ich Sie so. Warum kommen Sie nicht einfach bei uns vorbei? Lilia würde sich freuen Sie kennenzulernen. Und Sie können die beiden Kleinen treffen. Wie wäre es mit morgen Mittag?“
„Danke, Robert. Das ist leider nicht möglich“, sagte Rebecca langsam. Sie wollte ihn nicht verärgern. Ein direkter Kontakt mit einer Waffe in ihrem Leben war mehr als genug. Aber seine Einladung musste sie ablehnen. Ein Besuch bei ihm zuhause kam nicht in Frage.
Robert nahm ihr die Absage nicht übel. Er stand auf. „Falls Sie es sich anders überlegen, rufen Sie kurz an. Das gilt auch, wenn Sie in Bezug auf den Selbstschutz Ihre Meinung ändern.“
Leon schaute durch das Seitenfenster seines Wagens an dem Gebäude hoch, das während seines letzten Dienstes zu einem Tatort geworden war. Das prasselnde Geräusch auf dem Autodach und der Windschutzscheibe zu ignorieren war schwer. Der Regen wollte einfach nicht aufhören. In der Ferne hörte er ein Martinshorn. Die Feuerwehr. Das klang nach vollgelaufenen Kellern. Was bei den Sturzfluten, die seit Tagen vom Himmel fielen, nicht weiter überraschend war. Leon hatte keine Ahnung, warum er auf seinem viel zu frühen Weg zur Wache ausgerechnet hier vorbeigefahren war und sein Auto am Straßenrand direkt vor diesem Gebäude geparkt hatte. Die Praxis lag so gar nicht auf seiner normalen Route. Aber doch, er wusste es nur zu genau. Es machte keinen Sinn sich selbst zu belügen. Er machte sich Sorgen. Sie hatte ihn nicht angerufen. Dabei hatte er wirklich darauf gehofft. Warum er sich ausgerechnet über eine Psychotherapeutin, die wohl von Natur aus alles besser wussten, sorgte, das war das eigentliche Rätsel. Genauso rätselhaft wie die Tatsache, dass er viel zu oft an sie dachte. Denn er dachte ständig an sie und das setzte ihm ziemlich zu. Sie war eine Ablenkung, die er nicht gebrauchen konnte. Nun gut, aber da er schon mal vor Ort war, konnte er kurz nach ihr sehen. Und sobald er wusste, dass es ihr gut ging, konnte er das Thema endgültig abhaken. Oder er lud sie zum Mittagessen ein. Immerhin war es jetzt gerade Mittagszeit. Von daher wäre es ein durchaus nachvollziehbarer Vorschlag. Schließlich musste jeder mal etwas essen. Ja, das war keine schlechte Idee. Ein gemeinsames Essen mit ihr gab ihm die Zeit sicher zu gehen, dass es ihr tatsächlich auch gut ging. Und er hätte nebenbei die Möglichkeit sie besser kennen zu lernen. Was selbstverständlich nicht der Grund war, sie einzuladen. Die Angestellte an der Anmeldung sah ihn erwartungsvoll an, als er die Praxis wenig später betrat. "Kann ich Ihnen helfen?"
Leon blieb an der Anmeldung stehen. „Oberkommissar Leon Zimmermann, ist Dr. Brandt zu sprechen?"
Die Angestellte schenkte ihm einen sehr auffälligen Augenaufschlag. "Haben Sie einen Termin, Le-on?"
Sie zog seinen Vornamen auf ungewohnte Art in die Länge. Das klang merkwürdig. Entweder litt sie unter einem Sprachfehler oder sie flirtete mit ihm. Was stimmte mit den Frauen in dieser Praxis bloß nicht? Gestern diese komische Frau Sommer und jetzt die Sprechstundenhilfe. "Nein, das habe ich nicht."
"Nun, dann schauen wir mal, was ich für Sie tun kann, Le-on." Die Angestellte beugte sich unnötig weit über den Terminkalender und bot ihm damit einen tiefen Einblick in ihr Dekolletee. Leon nahm das nur sehr flüchtig zur Kenntnis bevor er sich auf das Landschaftsbild an der Wand hinter der Anmeldung konzentrierte.
"Nun, Dr. Brandt ist gerade außer Haus. In ungefähr einer Stunde wird sie zurück sein, wenn Sie solange warten möchten." Leon dachte über den Vorschlag nach. Er hätte mehr als genug Zeit, bevor sein Dienst begann. Aber eine Stunde lang hier warten, obwohl es durchaus im Bereich des Möglichen wäre, vielleicht könnten sie sogar noch nach ihrer Rückkehr essen gehen. Im nächsten Moment verwarf er den Gedankengang wieder. Hier eine Stunde lang auf Rebecca Brandt zu warten war schlichtweg absurd. So wichtig war es schließlich nicht. Nein, dazu sollte er keinesfalls bereit sein. Immerhin arbeitete sie anscheinend schon wieder und wenn sie arbeitete ging es ihr offenbar gut. "Nein, danke. Eher nicht", antwortete Leon. Es war höchste Zeit von hier zu verschwinden, bevor er es sich doch noch anders überlegte und sich brav im Wartebereich hockend wiederfand.
"Einen schönen Tag noch, Le-on", rief die Sprechstundenhilfe ihm nach und er konnte ihren Blick auf dem Weg zur Tür förmlich auf sich ruhen spüren.
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