"Das ist nicht nötig. Mir geht es gut", wiederholte sie.
Er mochte den Klang ihrer Stimme. "Sie könnten eine Gehirnerschütterung haben oder es könnte etwas gebrochen sein." Leon war nicht bereit aufzugeben, obwohl er selbst nicht genau wusste, wieso ihm das wichtig war. Wenn sie nicht ins Krankenhaus wollte, war das schließlich ganz allein ihre Sache, oder etwa nicht? Jetzt blickte sie ihn zum ersten Mal direkt an.
Die Frau hatte unglaubliche Augen, leicht mandelförmig und dunkelbraun. "Es ist ein Bluterguss, der in den nächsten Tagen nicht nur schmerzen, sondern auch verschiedene Farben annehmen wird. Mit meinem Gebiss und meinen Gesichtsknochen ist alles in Ordnung. Darf ich jetzt nach Hause?" fragte sie nun mit erstaunlich fester Stimme.
"Ich kann Sie nicht zu einem Krankenhausbesuch zwingen", stellte Leon fest, so gerne er sie auch zu einem Arzt verfrachtet hätte. "Aber Sie sollten sich auf keinen Fall selbst hinter das Steuer setzen."
"Kein Problem. Ich bringe sie nach Hause", schaltete sich Julia Sommer plötzlich ein und kam näher.
Die Frau versuchte aufzustehen, was ihr nicht leichtfiel. Leon hielt ihr seine Hand entgegen, um ihr zu helfen. Sie ignorierte die Hand und kämpfte sich alleine auf die Füße.
In dem Moment wusste Leon mit Sicherheit, dass es sich bei der Frau um Dr. Rebecca Brandt höchstpersönlich handelte. Sie war stur und wusste alles besser, das war eindeutig ein Psychofritze. Julia Sommer half ihr in den Mantel.
Leon steckte Rebecca seine Karte in die Manteltasche und sagte leise: "Falls Sie sich doch anders entscheiden und Hilfe benötigen, melden Sie sich." Die Worte waren heraus, bevor er überhaupt nachgedacht hatte. Fehlte bloß, dass er wie die Rothaarige kurz zuvor, Tag und Nacht hinzufügte. Aber nun waren seine unbedachten Worte nicht zu ändern. Obwohl er sich darüber ärgerte, denn es klang selbst für ihn wie eine Anmache. Nicht nur für ihn, bemerkte er durch Julias missbilligenden Blick. Sie legte ihren Arm um Rebeccas Schulter und führte sie hinaus.
Leons Blick folgte ihnen, bis sie im Gang verschwunden waren. "Was zum Teufel war das denn?" erkundigte sich Dieter neben ihm verblüfft.
"Nichts", entgegnete Leon kurz. Also hatte sogar Dieter seinen erbärmlichen Anmachversuch mitbekommen. Das war ja ganz großartig.
„Meinst du, wir können uns unterwegs noch etwas zu Essen besorgen?“
Der Klang von Julias Stimme riss Rebecca aus ihren Gedanken. Erst jetzt erkannte sie Häuser in den schemenhaften Umrissen, die an dem Autofenster vorbeizogen. Obwohl sie die bisherige Fahrtzeit damit zugebracht hatte aus dem Fenster zu schauen, hatte sie nichts wirklich gesehen. Der Verlauf dieses Abends war unfassbar. Wie lange war es her, dass sie sich nach einer Massage gesehnt hatte? Nach etwas so Belanglosem. Waren es Minuten? Oder waren es Stunden? Sie wusste es nicht. Zwei Menschen starben heute in ihrem Beisein. Und für einen Tod war sogar sie selbst verantwortlich. Sie wagte es nicht sich auszumalen wie alles verlaufen wäre, wenn die Putzkolonne nicht zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort aufgetaucht wäre. Nach Paulys Tod war Rebecca in eine Leere gestürzt. Sie war einfach auf dem Boden zusammengesunken, unfähig sich zu bewegen. Alles erschien ihr unwirklich und realitätsfremd. Julias Ankunft hatte sie kaum wahrgenommen und die Fragen der Polizisten in einem Automatismus beantwortet. Von einer Sprachfunktion, die quasi im Autopilotenmodus funktionierte hatte sie zwar schon gehört, aber es noch nie selbst erlebt. Bis zum heutigen Abend. Etwas selbst zu erleben war immer vollkommen anders, als es in der Theorie dargestellt wurde. Sie wusste nicht einmal, was die Polizisten sie gefragt hatten oder was sie ihnen antwortete. Die Beharrlichkeit, die Stimme des zweiten Kommissars befreite sie letztendlich irgendwann aus ihrer Starre. Sein mehrmaliger Versuch sie zu einem Krankenhausbesuch zu überreden, war ihr alles andere als willkommen. Ihr ging es gut. Zumindest was ihre körperliche Verfassung betraf. Erstaunlicherweise hatte sie durch den Schlag keine Brüche erlitten, sondern nur einen Bluterguss. Die Krankenhausärzte konnten dagegen nicht mehr unternehmen als sie selbst. Der Kommissar hatte ihr zwar eindringlich zu einer ärztlichen Untersuchung geraten, aber nicht angeboten sie zu begleiten. Wie hätte sie reagiert, wenn er es getan hätte? Sie erinnerte sich an seine Augen, in der Farbe eines strahlend klaren Himmels an einem Sommermorgen. Das war ein schöner Anblick. Wie der ganze Kommissar überhaupt. Was wäre geschehen, wenn er ihr seine Begleitung angeboten hätte? Wäre sie dann ins Krankenhaus gegangen? Es gab viele Dinge, die schlimmer waren, als jetzt mit ihm in einem Krankenhaus warten zu müssen. Worüber würden sie sich während der Wartezeit unterhalten? Den Schusswechsel? Die Aussicht trübte den Gedanken daran. Gab es keine anderen möglichen Themen über die sie sprechen würden? Rebecca seufzte. Vielleicht litt sie doch an einer Gehirnerschütterung. Warum sonst beanspruchte der Kommissar derartig ihr Denken? Das war zu klischeehaft für ihren Geschmack. So etwas passte nicht zu ihr, dafür umso mehr zu Julia.
„Im Notfall gebe ich mich mit Fastfood zufrieden“, meinte diese.
Für einen Moment hatte Rebecca den Faden verloren. Dann fiel ihr Julias Frage wieder ein. „Ich habe keinen Hunger. Setz mich bitte einfach Zuhause ab.“
„Bist du dir sicher?“ fragte Julia zweifelnd und warf ihr einen kurzen Seitenblick zu.
„Ja“, antwortete Rebecca und beobachtete wieder durch das Fenster die Welt, wie sie an ihr vorbeizog.
„Ich fasse nicht, dass er dir einfach so seine Karte gegeben hat“, brummte Julia nun. „Rufst du ihn an?“
Rebecca dachte kurz darüber nach. Die Karte hatte sie für den Notfall bekommen. Jedenfalls hatte sie es so verstanden. „Vermutlich nicht“, antwortete sie. Wer wollte schon gerne ein Notfall sein? Sie jedenfalls nicht.
„Gut, dann gib sie mir“, schlug Julia vor. „Ich rufe ihn an.“
„Nein“, erwiderte Rebecca prompt. Natürlich hatte Julia Interesse an dem Kommissar. Sie hatte ein Interesse an allen gutaussehenden Männern.
„Das finde ich sehr egoistisch von dir“, teilte Julia ihr schnippisch mit.
„Ich habe die Karte im Falle eines Notfalls und nicht damit du deiner Sammlung eine weitere Trophäe hinzufügen kannst“, stellte Rebecca klar.
„Hast du ihn dir denn genau angesehen? Vielleicht hattest du während deiner Freakshow nicht die Zeit dafür? Der Kerl ist heiß. Er ist heiß und er hat Handschellen. Wenn du ihn nicht willst, gib mir die Karte. Ich bin gerne ein Notfall“, forderte Julia.
„Nein“, wiederholte Rebecca erneut, was ihr einen finsteren Blick von Julia einbrachte.
Ihre Freundin nahm ihr das wirklich übel, stellte Rebecca fest. Sie kannten sich seit Jahren, hatten sich während ihrer Studienzeit sogar eine Wohnung geteilt und sich noch nie wegen eines Mannes gestritten. Vielleicht lag es daran, dass Rebecca sich kurz nach dem Studienbeginn verliebt hatte und wenig später eine feste Beziehung einging. Julia hingegen, beanspruchte damals alle anderen Männer für sich.
„Ich kann es nicht fassen. Du weigerst dich tatsächlich?“ Julias Stimme klang etwas schrill. Sie regte sich sehr über die Sache auf. Was nicht erstaunlich war. Julia war nun einmal eine sehr egoistische Person, die immer bekam was sie wollte. Dazu war ihr jedes Mittel recht. Das galt sowohl für die Anwältin als auch für die Privatperson Julia Sommer. Rebecca sehnte sich nach ihrer Wohnung, nach Ruhe und dem Ende dieser Diskussion. Warum wollte diese Heimfahrt nicht enden? Julia bestrafte sie nun mit Schweigen. Erleichtert stieg Rebecca aus, als der Wagen endlich vor dem Mehrfamilienhaus hielt, in dem sich ihre Wohnung befand. Kaum hatte sie die Wagentür hinter sich geschlossen, rauschte Julia mit quietschenden Reifen davon. Kopfschüttelnd schloss Rebecca die Haustür auf. Ihre Wohnung lag im Parterre. Sie musste nur wenige Schritte durch den Hausflur, um an ihre Wohnungstür zu gelangen. Kaum hatte sie ihre Wohnung betreten, ging sie in die Küche zum Kühlschrank, nahm eine Packung Tiefkühlerbsen aus dem Gefrierfach und schmiegte es an ihre schmerzende Wange. Mit der freien Hand nahm sie ein gerahmtes Foto von einem Regal im Wohnzimmer und ließ sich auf die Couch sinken. In dem schwachen Lichtschein, der durch die Tür von dem hell erleuchteten Flur ins dunkle Wohnzimmer schien, betrachtete Rebecca das Bild. „Ach, Ben“, seufzte sie. Tränen stiegen ihr in die Augen, als sie das Bild fest an ihre Brust drückte.
Читать дальше