Leon parkte seinen Wagen im Carport, stieg aus und ging zur Tür seiner Einliegerwohnung. Trude, seine Vermieterin, fischte gerade die Tageszeitung aus dem Briefkasten und winkte ihm mit der Zeitung in der Hand freudig zu. "Guten Morgen, Leon. Ich habe dir gestern Abend etwas zu Essen in den Kühlschrank gestellt. Es gab Schmorbraten mit Klößen und Rotkohl. Ich habe wieder viel zu viel gekocht. Lass es dir schmecken!" Leon winkte zurück. Er mochte das alte Vermieterehepaar, obwohl er sich an Trudes Eigenart ihm etwas zu Essen in seinen Kühlschrank zu stellen, nicht recht gewöhnen konnte. Sie spazierte dazu einfach durch seine Wohnung, während er nicht zu Hause war. Unter Privatsphäre verstand er etwas anderes. Diese Unart hatte Trude sich mit der Zeit angewöhnt. Offensichtlich brauchte der arme Junge etwas Anständiges zu Essen. Von dieser Meinung war sie nicht abzubringen. Die eigentliche Abmachung war, er zahlte eine relativ geringe Miete und dafür mähte er ein paar Mal im Jahr den Rasen. Irgendwann war in einem merkwürdigen Automatismus noch Teilverpflegung dazu gekommen. Er wusste, dass Trude es nur gut mit ihm meinte. Deswegen hatte er das Schloss auch nicht ausgetauscht. Leon sperrte die Tür auf. Selten hatte er sich seinen Dienstschluss so sehr herbei gewünscht wie heute. Nach ihrem Einsatz in der Praxis waren sie zur Inspektion zurückgekehrt, um sich mit der lästigen, aber dazu gehörenden Schreibarbeit zu befassen. Die machte leider einen großen Teil seines Berufs aus. Und Dieter, clever wie er nun mal war, überließ den, seiner Meinung nach, unsinnigen Schreibkram natürlich gerne ihm. Da Leon angeblich noch die Übung fehlte. Als ob das Schreiben von Berichten jahrelange Übung erforderte. Sein Partner nutzte den höheren Dienstgrad aus und schob die unliebsame Arbeit auf Leon ab. Und als wäre das nicht schon Strafe genug gewesen, musste er Sticheleien über sich ergehen lassen. Die winzige Tatsache, dass er Rebecca Brandt seine Hilfe angeboten hatte wurde von seinen Kollegen offenbar sehr amüsiert aufgenommen. Leons Begründung, dass er nur ein anständiger Freund und Helfer sein wollte, bot weitere Gründe für wilde Spekulationen. Na gut, da empfand er ausnahmsweise Sympathie für eine Frau, das letzte Mal war schon Jahre her, und womit bekam er es gedankt? Mit den Sticheleien seiner Kollegen. Er erinnerte sich an seine vielleicht etwas übertriebene Reaktion auf einen Kommentar eines nicht sehr beliebten Kollegen. "Hey Zimmermann. Falls du die Adresse des reizenden Docs brauchst um dich ausgiebig um sie zu kümmern, kann ich sie dir geben. Immerhin wäre es im Interesse von uns allen, wenn du etwas entspannter wärst."
"Wenn du meine Faust in deinem Gesicht brauchst, kann ich sie dir geben", hatte Leon erbost erwidert, doch Dieters fester Griff an seiner Schulter hatte ihn von allem weiterem abgehalten.
Leon verzichtete auf das Einschalten des Lichts und drückte auf den Knopf seines Anrufbeantworters, dessen beharrliches Aufleuchten auf den Eingang von Nachrichten hinwies.
"Leon, dein Vater wird morgen siebzig Jahre alt. Ich weiß, dass du viel zu tun hast. Aber es wäre wirklich schön, wenn du ihn besuchen kommen könntest. Er würde sich so freuen", erklang die Stimme seiner Mutter vom Band. Müde rieb sich Leon die Augen. Geburtstag hin oder her, er konnte seine Eltern nicht besuchen. Zu schwer lastete die Tatsache auf ihm, dass er seinen Bruder einfach nicht finden konnte. Er, der die ideale Ausbildung und alle Möglichkeiten dazu hatte, versagte kläglich. So konnte er seinen Eltern nicht vor die Augen treten. Eines Tages, wenn Daniel endlich wieder da war, würden sie zu zweit heimkehren. Das war jedenfalls Leons Plan. Außerdem liebte sein Vater es, Geschichten über Daniel zu erzählen. Geschichten darüber, wie Daniel einen Vertrag bei einem Bundesligisten ergattert hatte. Und was für ein erfolgreicher Nationalspieler Daniel heute sein könnte, wenn er nicht einfach verschwunden wäre. Nein, das ertrug Leon einfach nicht. Er löschte die Nachricht und ging ins Badezimmer. Das war eine wirklich miese Nacht gewesen. Mal abgesehen davon, dass er eine Therapeutin getroffen hatte, die er nur zu gerne näher kennenlernen würde. Eine Therapeutin, um Himmels willen! Was für eine miese Nacht. Er schaltete das Badezimmerlicht ein, zog sich aus und stellte sich unter das fließende, warme Wasser der Dusche.
Rebecca bezahlte den Taxifahrer und stieg aus. Trotz der eiskalten Regentropfen, die auf sie einschlugen, blieb sie unschlüssig stehen. Der Hintereingang des Gebäudes, in dem ihre Praxis lag, war nur wenige Schritte weit entfernt. Eine leicht zu überbrückende Distanz, wenn da nicht ihre Zweifel wären. Der Problematik war sie sich überaus bewusst. Immerhin hatte sie mal eine Patientin therapiert, die nach einem Überfall monatelang nicht arbeitsfähig, sogar kaum lebensfähig gewesen war. Aber Rebecca wusste genau wie wenig hilfreich es war, sich jetzt ängstlich in der Wohnung zu verschanzen. Die Wahrscheinlichkeit erneut einen solchen Vorfall wie den gestrigen erleben zu müssen, war sehr gering. Sie musste das einfach hinter sich lassen und ihr Leben wie gewohnt weiterführen. Dazu gehörte auch täglich in ihre Praxis zu gehen und ihren Patienten zu helfen. Rebecca straffte die Schultern und ging auf die Tür zu.
Sie fand Natascha und ihre Teilzeitangestellte Sarah im Flur der dritten Etage vor. Die beiden Frauen standen in einigem Abstand zur Praxis und beobachteten zwei in Schutzanzügen gehüllte Personen beim Reinigen des Eingangsbereichs.
Als Natascha sie sah, machte sich Erleichterung auf ihrem Gesicht breit. „Um Himmelswillen, was ist denn hier passiert?“
Rebecca war nicht in der Verfassung irgendwelche Erklärungen abzugeben. Sie hatte es gestern miterlebt und es hatte sie bis in den ohnehin viel zu kurzen Schlaf verfolgt. Das, und diese unglaublich blauen Augen eines bestimmten Polizisten. Sie wollte die Ereignisse nicht auch noch schildern müssen. Jedenfalls nicht jetzt. Auch wenn die beiden Frauen durchaus das Recht auf eine Erklärung hatten. „Es gab Schwierigkeiten“, meinte sie deshalb. Das war eine sehr schwache Beschreibung, wenn man bedachte, dass in diesem Moment die Überreste eines Mannes entfernt wurden, der vor vierundzwanzig Stunden sicherlich noch nichts von seinem baldigen, gewaltsamen Tod geahnt hatte.
„Schwierigkeiten? Das ist doch Blut! Und was ist mit deinem Gesicht passiert? Wurdest du etwa geschlagen?“ Natascha starrte entsetzt auf Rebeccas Wange.
Rebecca holte tief Luft. Sie hatte sich vorhin alle Mühe gegeben ihre verfärbte Wange mithilfe diverser Cremes zu kaschieren. Und nun stellte sich all die Mühe als umsonst heraus. Vorsichtig ging sie an den beiden Reinigungsleuten vorbei in ihre Praxis. In ihrem Sprechzimmer verstaute sie ihre Jacke. Als sie sich an ihren Schreibtisch setzte, fiel ihr Blick auf den großen, dunklen Fleck im Teppichboden. Der war unmöglich auswaschbar. Höchstwahrscheinlich musste der Bodenbelag komplett ausgetauscht werden. Vielleicht sollte sie gleich etwas verlegen lassen, das leichter zu reinigen war. Rebecca hatte sich auf eine Panikattacke gefasst gemacht. Das war eine natürliche Reaktion auf die Geschehnisse. Doch sie verspürte keine Panik, lediglich ein kleines, kontinuierliches Pochen in ihrem Kopf. Leichte Kopfschmerzen waren ihr viel lieber als eine Panikattacke. Also nahm sie sich eine der Akten, die auf ihrem Schreibtisch lag und begann zu lesen. Ein Klopfen unterbrach sie wenig später. Rebecca sah auf. Ein Mann des Spezialreinigungsdienstes stand in der Tür. Es war eine bizarre Vorstellung, dass es für solche Reinigungsfirmen überhaupt einen rentablen Markt gab.
„Die Reinigung des Flurs und des Vorzimmers sind abgeschlossen. Den Teppichboden hier werden Sie austauschen lassen müssen. Melden Sie sich, wenn es soweit ist. Ich übernehme die Entsorgung. Das ist Sondermüll“, teilte der Mann ihr mit.
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