Shania verstand jedoch nicht, weswegen Raven ihr gegenüber nicht erwähnen wollte, dass der Ermordete sein Vater war. >>Gut.<< Ravens Miene erhellte sich. >>Früher 44
haben wir uns eigentlich relativ gut verstanden. Wir haben teilweise sogar zusammen gejagt und uns gegenseitig unterstützt. Das hat sich allerdings vor 16 Jahren geändert.
Ich weiß nicht genau, was vorgefallen ist. Ich war damals gerade mal zehn und die älteren unseres Clans haben darüber nie ein Wort verloren. Ich weiß nur, dass die Wölfe etwas sehr schlimmes gemacht haben müssen. Sie haben gegen eins der Gesetzte verstoßen und so kam es, dass Ian den gesamten Clan aus unserem Territorium verbannt hatte.
Sie wollten sich das natürlich nicht einfach so gefallen lassen und so kam es regelrecht zu einem Krieg. Ein kalter Krieg um genau zu sein. Wir führten keine Schlachten, sondern gingen uns eher aus dem Weg. Aber wir bereiteten uns immer darauf vor, zuzuschlagen, sobald die Wölfe nur einen kleinen Mucks von sich geben.<< Raven machte eine kurze Pause um Luft zu holen. >>Mit den Mord an Ian haben sie somit logischerweise den Auslöser für einen Krieg, einen wahrhaften Krieg, gedrückt. Wir können sie nicht einfach so davon kommen lassen. Wenn du natürlich meinst, das es wichtig sein könnte, was es mit dem Blut auf sich hat und wir nicht vorschnell handeln sollten, dann werde ich die Information, dass es sich tatsächlich um eine Tat der Werwölfe handelt noch eine Weile meinem Volk verschweigen. Allerdings werde ich es nicht lange verheimlichen können, also wäre es gut, wenn du bald mehr wüsstest.<< Nachdem er ihr alles erzählt hatte, lehnte er sich entspannt zurück und wartete auf eine Reaktion. >>Nun, gut.<< Shania suchte nach passenden Worten. >>Ich wäre 45
dir wirklich sehr dankbar, wenn du dieses Ergebnis noch eine Weile für dich behalten könntest. Wie ich vorhin bereits erwähnt hatte, werde ich heute Abend vermutlich mehr wissen, da ich eine Expertin für Wolfsblut ausfindig gemacht habe.<< Genauer gesagt, hatte ihre Freundin Saya sie ausfindig gemacht, aber das musste sie diesem verführerischen Kerl ja nicht auf die Nase binden. Raven antwortete mit einem erleichterten Kopfnicken. Shanias Gedanken schweiften ab. >>Ich wüsste trotzdem zu gern, was vor sechzehn Jahren vorgefallen ist.<< Mit einem lauten Klirren zersprang die Terrassentür und ein riesiger grauer Wolf betrat den Raum. Zähnefletschend und knurrend sprang er auf die große dunkelhaarige Frau, die unter der Treppe stand, zu und fing an, sie mit seinen Reißzähnen zu zerfleischen. Ein ohrenbetäubender Schrei eines kleinen Mädchens hallte durch den Raum.
Bilder der Vergangenheit tauchten vor Shanias innerem Auge auf und dann wurde plötzlich alles schwarz.
>>Hallo? Shania? Hörst du mich?<< Diese Stimme. Shania wusste, dass sie diese Stimme kannte.
Dieser raue männliche Ton, der so dunkel war, dass man am ganzen Körper Gänsehaut bekam, aber dennoch so sanft und wohltuend. Sie spürte, wie eine Hand immer wieder ihr 46
Gesicht tätschelte. Die Hand war so warm und fühlte sich so vertraut an. Sie genoss diese Berührung richtig.
>>Hey! Mach doch die Augen auf! Was ist denn los?<< Shania wollte ihre Augen öffnen, um zu sehen, wer da zu ihr sprach. Plötzlich spürte sie einen stechenden Schmerz in ihrem Kopf und sie war wieder bei vollem Bewusstsein.
Binnen Sekunden war sie auf den Beinen. >>Autsch! So eine Ohnmacht hinterlässt anscheinend Spuren.<< Sie hielt sich ihren Kopf, der unaufhörlich pochte. Mit besorgten Blicken schaute Raven sie an. >>Tut es sehr weh?<< Noch bevor Shania antworten konnte, nahm er ihr Gesicht in die Hand und schaute ihr ganz tief in die Augen. Shanias Herz schlug schneller und ihre Wangen röteten sich. >>Was ist denn passiert?<< Zart streichelte seine Stimme ihre Ohren.
Sie öffnete den Mund, um was zu sagen, doch als er plötzlich immer näher kam, schloss sie ihn wieder. Raven beugte sich immer weiter vor, zog sie weiter an sich heran.
Das Pochen ihres Herzens wurde immer lauter. Sein Geruch umgarnte ihre Sinne. Er roch nach – eigentlich konnte sie gar nicht definieren, wonach er genau roch. Dieser Geruch war so männlich und erinnerte an Freiheit. Einfach unbeschreiblich. Seine wunderschönen Augen blickten tief in die ihren und seine starken Hände umfassten sie leidenschaftlich. Es lag eine tiefe Spannung in der Luft, als er sie küssen wollte. Der Mann, der so sinnlich war, dass es verboten gehörte. Shanias ganzer Körper zitterte vor Verlangen. Sie wollte ihn. Jetzt. Plötzlich schossen ihr 47
tausend Gedanken durch den Kopf. Was tat sie da eigentlich? Er war ein Gestaltwandler und dazu noch das zukünftige Oberhaupt. Ravens Lippen waren nur noch einen Wimpernschlag von ihren entfernt. Nein. Stopp! Mit einem Satz stieß sie in weg, nahm ihre Tasche und hastete zu Tür.
>>Sobald ich Neuigkeiten habe, melde ich mich!<< Schnell stammelte sie diese Worte, bevor sie aus der Tür eilte und den entsetzt blickenden Raven hinter sich zurück ließ.
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Wie angewurzelt stand er da und blickte immer noch entsetzt auf die offen stehende Tür, durch die Shania gerade gestürmt war. Sie hatte ihn einfach stehen lassen. Sie hatte seinen Kuss abgewehrt, ihn sogar weggestoßen und ihn dann eiskalt stehen lassen. Unfassbar. Noch nie hatte eine Frau es gewagt, sich ihm zu widersetzen. Noch nie kam es vor, dass eine Frau nicht seinem Charme erlegen war. Raven bekam immer, wonach er verlangte. Die Frauen lagen ihm zu Füßen. Wie konnte es bloß sein, dass er diesmal abgeblitzt war? Hatte er vielleicht überstürzt gehandelt? Hatte er sie bedrängt? Shania schien ja sowieso noch wegen irgendetwas unter Schock gestanden zu haben. Er fragte sich, weswegen sie in Ohnmacht gefallen war. Er hatte sich ganz schöne Sorgen gemacht, als sie da bewusstlos vor ihm lag.
Wieso machte er sich eigentlich über all das Gedanken? Er wollte die Frau doch sowieso nur flachlegen und seinen Spaß haben. Er war einfach nicht für feste Beziehungen geschaffen. Die letzte richtige Beziehung, die er hatte war ein Alptraum. Er war nur verarscht und verletzt worden und hatte sich geschworen, sich nie wieder so von einer Frau demütigen zu lassen. Wenn er also einer tollen Frau begegnete, hatte er ein wenig Spaß, genoss die kurze Zeit und dann war die Sache für ihn auch erledigt. Aber bei Shania war das irgendwie etwas anderes. Er wollte sie 49
beschützen, sie in seinen warmen Armen halten, morgens mit ihr aufwachen und vor allem wollte er sie nicht teilen.
Mit niemanden. Wenn auch nur ein anderer Mann sie anschauen würde, würde er ihm eigenhändig den Kopf abreißen. Verdammt. Er hatte sich geschworen, nie wieder tiefere Gefühle für ein weibliches Wesen zu empfinden und dennoch schien es, als hätte es ihn jetzt hoffnungslos erwischt. Und das schlimme an der Sache war, dass sie ihn abwies. Bei ihrer ersten Begegnung hatte er ihre Erregung doch ganz genau gespürt. Weswegen wehrte sie sich jetzt so dagegen?
Verzweifelt und niedergeschlagen ließ er sich auf die Couch fallen und vergrub das Gesicht in seinen Händen.
Vollkommen aufgelöst kam Shania zuhause an und sperrte die Haustür auf. Den ganzen Heimweg hatte sie geflucht und sich die Haare gerauft, dass ihr die Leute in der Tube abwertende Seitenblicke zugeworfen hatten. Das war wirklich demütigend. Vorallem, wenn man bedachte, dass die Londoner einiges an seltsamen Erscheinungen gewohnt waren und eigentlich gar nicht sonderlich auf andere achteten. Man konnte nackt sein und es würde keinen interessieren. So wie sie sich jedoch aufgeführt hatte, dachten alle vermutlich, dass sie eine Psychopatin war, die aus dem Irrenhaus ausgebrochen war. Ja, das war 50
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